Diogenes und die Suche nach der Wahrheit

Nach innen gehen: Was die traditionelle Kunst dem Herzen bietet.
Titelbild
Foto: public domain
Von 5. September 2021

Manchmal, wenn sich die seltene Gelegenheit bietet, sitze ich da und denke darüber nach, was es eigentlich bedeutet, man selbst zu sein. Ich versuche, alle Eigenschaften und Merkmale, die ich an mir selbst wahrnehme, beiseite zu schieben, um zu sehen, ob ich auch ohne sie mein Selbst erkennen kann. Meistens kann ich das. Ich kann mich jedoch nicht ohne meine Liebe zur Kunst vorstellen. Ich glaube, die Frage der Glaubwürdigkeit ist etwas, auf das viele von uns irgendwann in ihrem Leben stoßen. Was bedeutet es, ganz „ich“ zu sein? In diesem Zusammenhang stieß ich auf ein wunderbares Gemälde von John William Waterhouse mit dem Titel „Diogenes“. 

Diogenes Mut zur Authentizität

Diogenes Überzeugungen und Praktiken trugen zur Entstehung des griechischen Kynismus bei, einer neuen philosophischen Auffassung, die das Streben nach Wahrheit über soziale Standards stellt. Diese Philosophie unterscheidet sich von den heutigen Zynikern, die in ihrem Misstrauen gegenüber allem und jedem eine pessimistische Sicht des Lebens pflegen. Der traditionelle Kynismus betonte das Streben nach Wahrheit und Rechtschaffenheit und befürwortete drei Aspekte freiheitlichen Denkens: Genügsamkeit, Selbstbestimmung und Redefreiheit.

Diogenes praktizierte eine Art Askese, indem er alles Unnötige aus seinem Leben entfernte. Er beobachtete zum Beispiel eine Maus, die sorglos umherlief, und beschloss, sich nicht mehr an den Sorgen der normalen Menschen zu beteiligen. Er sah, wie Kinder Wasser mit den Händen schöpften und Linsen mit Brot aßen, und beschloss, dass er keine Schüssel und keinen Löffel mehr brauchte. Er lebte sogar in einem großen Weinfass, nachdem er beschlossen hatte, dass eine bessere Behausung unnötig sei.

Im Buch „Leben und Meinungen berühmter Philosophen“ des altgriechischen Biografen Laertius heißt es, dass Diogenes „oft lautstark betonte, dass die Götter den Menschen die notwendigen Mittel für ein angenehmes Leben zur Verfügung gestellt hätten, diese aber den wahren Sinn dahinter aus den Augen verloren hätten“. 

Diogenes war der Meinung, dass unser Streben nach Bequemlichkeit uns ironischerweise daran hindern könnte, tatsächlich ein angenehmes Leben zu führen.

Zur Selbstbestimmung gehörte auch das Streben nach Tugend und Wahrhaftigkeit. Diogenes ging am helllichten Tag auf Menschen zu, hielt ihnen eine Lampe ins Gesicht und erklärte, er suche nach einem wahrhaftigen Menschen.

Laertius berichtet weiter: „Diogenes pflegte zu sagen, dass die Menschen danach strebten, sich gegenseitig zu übertreffen, aber niemand würde danach streben, ein guter und aufrichtiger Mensch zu werden. Er wunderte sich, dass die Dramatiker die Übel des Odysseus studieren würden, während sie ihre eigenen nicht einmal kannten; oder dass die Musiker die Saiten der Leier stimmten, während sie die Launen ihrer eigenen Seele im Missklang ließen; sowie, dass die Mathematiker die Sonne und den Mond beäugten, aber die Dinge in der Nähe nicht beachteten; dass die Redner in ihren Reden viel Aufhebens um die Gerechtigkeit machten, sie aber nie praktizierten; oder dass die Geizigen gegen den Reichtum wetterten, während sie ihn über alle Maßen liebten.“

Zur Redefreiheit gehörte auch die Fähigkeit, ehrlich und ohne Angst vor Bestrafung zu sprechen. Diogenes war dafür bekannt, dass er sagte, was immer er sich dachte, und zwar zu wem auch immer er wollte. 

Er machte sich mit geistreichen Bemerkungen über die Bürger lustig, auch über den großen Philosophen Platon oder den mächtigen Führer Alexander den Großen.

Diogenes Ziel war es, seine Weisheit in die Praxis umzusetzen und nicht nur darüber zu philosophieren, wie es viele seiner Zeitgenossen zu tun pflegten. Die Grundvoraussetzung für dieses Ziel bestand in der vollkommenen Hingabe an eine tugendhafte Lebensweise.

Der „Diogenes“ von Waterhouse

Im Jahr 1882 malte John William Waterhouse ein interessantes Bild von Diogenes. Sofort fällt auf, dass ein Geländer die Komposition diagonal von oben rechts nach unten links teilt. 

Auf der rechten Seite sitzt Diogenes in seinem mit Stroh ausgelegten Weinfass. Er hält ein paar Schriftstücke in der Hand und kehrt dem Geschehen auf der linken Seite den Rücken zu. Er sieht relativ schmutzig und ungepflegt aus. Außerhalb des Fasses liegen Zwiebeln auf dem Boden, die wahrscheinlich sein Nahrungsmittel für später darstellen, und die Laterne, mit der er nach der Wahrheit sucht.

Auf der linken Bildhälfte beugt sich eine junge Frau über das Geländer, um Diogenes näher zu betrachten. Auf der Treppe über ihr stehen zwei weitere junge Damen, die alle sehr hübsch gekleidet sind. Sie halten Sonnenschirme und Fächer in der Hand, um die Hitze zu mildern. Auf der Treppe steht ein Korb mit Blumen, mit denen sich die über das Treppengeländer geneigte Dame geschmückt hat.

Das Geländer lässt unseren Blick nach oben schweifen, wo wir in der Ferne weitere Menschen wahrnehmen können. Diese Menschen scheinen einen ähnlichen Luxus zu genießen wie die drei jungen Frauen auf der Treppe: Sie sind attraktiv gekleidet und halten zum Schutz vor der Sonneneinstrahlung Schirme in der Hand; sie scheinen in aller Ruhe zu flanieren.

Interessant ist die Zweiteilung der Komposition. Man könnte meinen, die rechte Seite stehe für den Zynismus von Diogenes und die linke Seite für den gesellschaftlichen Zeitgeist.

Diogenes hat den Vorzügen der gesellschaftlichen Normen den Rücken gekehrt, weil sie ihm nicht die Wahrheit vermitteln, nach der er sucht. 

Diogenes hält eine Schriftrolle in der Hand, die vermutlich seine Glaubenssätze beinhaltet. Die Zwiebeln und das Weinfass stehen für seine Genügsamkeit, die er durch seine Askese erlangt hat. Die Laterne symbolisiert sein Streben nach dem wahren Lebensinhalt und ist mit dem Bedürfnis nach persönlicher Freiheit eng verbunden.

Die jungen Damen hinter ihm symbolisieren in meinen Augen die gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Die schicke Kleidung, die Sonnenschirme, die Blumen und ihre Ungezwungenheit scheinen einen bestimmten sozialen Status zu repräsentieren. Verkörpert die Menschenmenge am oberen Ende der Treppe das angestrebte Ziel dieser Damen im Leben? Wenn ja, beeinträchtigt das Begehren danach ihre eigene Authentizität, ihre Freiheit?

Ich will damit nicht sagen, dass Bequemlichkeit etwas Schlechtes ist. Ich schätze, wie die meisten Menschen, den Komfort. Ich will auch nicht behaupten, dass extreme Askese eine Tugend sein muss. Es gibt jedoch einen Punkt, an dem die Ausübung von extremer Bequemlichkeit oder extremer Askese die eigene Authentizität und Freiheit beeinträchtigen können.

Wir müssen vorsichtig sein, weil der Widerstand gegen die Masse um seiner selbst willen dazu führen kann, dass wir einer anderen Masse folgen, was uns davon ablenkt, dem näher zu kommen, was wir wirklich sind, und uns wiederum in Ketten legt, die andere geschaffen haben.

Die junge Frau am Fuße der Treppe lehnt sich näher heran, um Diogenes besser sehen zu können. Indem sie sich näher herantastet, überschreitet sie die Grenze und wirft ihren Schatten auf Diogenes. Interessiert sie sich auch für Authentizität und Freiheit, die die oberen Gestalten auf der Treppe nicht so sehr reizen? Oder teilt sie die scheinbare Belustigung der jungen Frauen im oberen Teil gegenüber Diogenes?

Um uns unserer eigenen Persönlichkeit zuwenden zu können, müssen wir uns manchmal von dem Streben der Masse lösen. Mit der Masse Schritt zu halten, bringt andere Ängste mit sich.

Authentizität beruht auf Aufrichtigkeit, auf der aufrichtigen Suche nach der Wahrheit, unabhängig davon, was andere von uns denken mögen. Es ist ein Streben, das Mut erfordert, sowohl uns selbst in Frage zu stellen, um die Wahrheit zu finden, als auch sich einer Gesellschaft zu stellen, die ein solches Streben für verrückt hält. Wie viele von uns verfügen über diesen Mut?

Kunst hat die unglaubliche Fähigkeit, auf das hinzuweisen, was man sonst nicht sehen kann, sodass wir uns fragen können: „Was bedeutet das für mich und für jeden, der es sieht?“ „Wie hat es die Vergangenheit beeinflusst und wie könnte es die Zukunft beeinflussen?“ „Was sagt es über die menschliche Erfahrung aus?“ Dies sind einige der Fragen, über die ich mich in meiner Serie „Was traditionelle Kunst dem Herzen bietet“ auseinandergesetzt habe.



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