Die Macht der Gefühle: Goethes „Die Leiden des jungen Werther“

Vor 250 Jahren erschien Johann Wolfgang Goethes 
berühmter Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“. In nur vier Wochen geschrieben, wurde er zu einem Schlüsselwerk der Weltliteratur – mit Wirkmacht bis heute.


Titelbild
Faksimile einer Doppelseite aus der Erstausgabe des Romans „Die Leiden des jungen Werthers“ des noch bürgerlichen Johann Wolfgang Goethe. Den Titel änderte er später geringfügig in „Die Leiden des jungen Werther“.Foto: Jula2812/Own work
Von 1. Oktober 2024

Für den gerade einmal 25-jährigen Johann Wolfgang Goethe ist das fast rauschhafte Arbeiten an seinem Briefroman im Jahr 1774 eine Form innerer Befreiung. Der junge Autor schreibt sich tiefgreifende Erlebnisse und Empfindungen von der Seele.

Eine Last von der Seele genommen

Im Rückblick auf dieses Geschehen berichtet er fast 40 Jahre später im autobiografischen Spätwerk „Dichtung und Wahrheit“ von der wunderbaren Läuterung nach Vollendung der „Leiden des jungen Werther“. Noch heute spürt man, wie klar erinnerlich und präsent ihm das damals erlebte Glücksgefühl auch Jahre später ist:

„Ich fühlte mich“, schreibt der inzwischen über 60-jährige Goethe, „wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, und zu einem neuen Leben berechtigt.“

Dieser ganz persönlichen und glücklichen Katharsis vorangegangen war jedoch eine Zeit der Krisen und Erschütterungen.

Fern väterlicher Kontrolle

Auf Wunsch des Vaters hatte sich der junge Mann nach jahrelangem Studium der Juristerei eher lustlos und mehr schlecht als recht in eigener kleiner Frankfurter Kanzlei als Anwalt betätigt.

Wiederum drängte ihn der Vater, diesen Zustand beruflicher Stagnation und Perspektivlosigkeit zu beenden. Als Praktikant am Reichskammergericht im knapp 70 Kilometer entfernten Wetzlar sollte Johann Wolfgang wertvolle Erfahrungen sammeln.

Das Reichskammergerichtsmuseum in Wetzlar zeigt an historischem Ort Dokumente und Objekte aus der Geschichte der Gerichtsbarkeit. Foto: Oliver Deisenroth, CC BY-SA 3.0

Der Sohn folgt dem Rat des Vaters, jedoch anders, als es sich dieser erhoffte. In Wetzlar, fern der väterlichen Beobachtung, widmet er sich weniger der Jurisprudenz als der Lektüre antiker Autoren, schließt Freundschaften, besucht gesellschaftliche Vergnügungen und lebt, neben den lästigen täglichen Pflichtarbeiten, in den Tag hinein.

Arbeitskollege und Freund Johann Christian Kestner beschreibt ihn als unangepasst, ja manchmal sogar „bizarr“. Überaus „wohl angeschrieben“ sei Goethe jedoch bei „Kindern und Frauenzimmern“ gewesen.

In Wetzlar tue Goethe, so Kestner, was ihm gefalle, „ohne sich darum zu kümmern, ob es anderen gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhasst. […] Aus den schönen Wissenschaften und Künsten hat er sein Hauptwerk gemacht oder vielmehr aus allen Wissenschaften, nur nicht [aus] den sogenannten Brotwissenschaften.“

Hals über Kopf verliebt – und tief erschüttert

Fast gerät Freund Kestner sogar in Gefahr, zum Leidtragenden von Goethes spontaner und lustbetonter Lebensweise zu werden. Auf einem Tanzvergnügen lernt Johann Wolfgang Goethe schließlich Charlotte Buff, die Verlobte Kestners, kennen und verliebt sich in sie.

Imaginiertes Porträt von Lotte und Begegnungsszene zwischen Werther und Lotte. Foto: Originalzeichnung von Daniel Chodowiecki für Kupferstiche zu Goethes Briefroman, Public Domain

Als sie ihm jedoch wenig später erklärt, ihrem Verlobten treu bleiben zu wollen, reist Goethe Hals über Kopf aus Wetzlar ab.

In ihm bleibt Aufgewühltheit und Schmerz. Sicherlich schwingt die Scham über den versuchten Betrug am Freund mit, doch auch der Gram über die Zurückweisung seiner Liebe und die Unerfülltheit seiner Sehnsüchte sitzt tief.

Imaginiertes Porträt von Werther und dem Moment, in dem der Romanheld seine Liebe gesteht. Foto: Originalzeichnung von Daniel Chodowiecki für Kupferstiche zu Goethes Briefroman, Public Domain

Zum Gefühlschaos aus Verletzung und tiefem Bedauern kommt die erschütternde Nachricht vom Freitod eines Wetzlarer Kollegen hinzu.

Der fast gleichaltrige Karl Wilhelm Jerusalem, ein ebenso junger Jurist am Kammergericht wie Kestner und Goethe, hat sich in eine verheiratete Frau verliebt und aus Kummer über die Aussichtslosigkeit seiner Liebe Selbstmord begangen.

Eigenes Erleben und fremdes Schicksal verbinden sich nun in der Gedankenwelt Johann Wolfgang Goethes zu einem einzigen Entwicklungs- und Handlungsstrang. Die Verarbeitung des eigenen Liebeskummers verschmilzt mit der menschlichen Tragödie Jerusalems, in dessen Hintergründe und Auslöser sich Goethe intensiv einfühlt.

Karl Wilhelm Jerusalem im Alter von etwa 25 Jahren, Pastell. Um 1770, die gepuderten Haare lassen ihn älter erscheinen. Der Maler ist unbekannt. Foto: Public Domain

Gefährliches Lebensgefühl

In „Dichtung und Wahrheit“ erinnert er sich später an das Lebensgefühl, das er mit dem unglücklichen Karl Wilhelm Jerusalem geteilt zu haben scheint:

„… von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von außen zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlosen bürgerlichen Leben hinhalten zu müssen, befreundete man sich […] mit dem Gedanken, das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eignem Belieben allenfalls verlassen zu können.“

Ein leichtfertiges und folgenschweres Liebäugeln mit dem trügerischen Ausweg der Selbsttötung. Eine gedankliche Sackgasse, die auch die Romanfigur des jungen Werther auf ihrer verzweifelten Suche nach dem Glück in den tragischen Strudel irrationaler Entschlüsse ziehen wird.

Das Phänomen des „Wertherfiebers“

Mit der Veröffentlichung des Briefromans setzen sofort hochemotionale Reaktionen ein. Sie reichen von blankem Entsetzen über das verantwortungslose, egozentrische Handeln Werthers bis hin zu seiner schwärmerischen Verehrung.

Fand Johann Wolfgang Goethe in seinem „Werther“ im fast fieberhaften Nachfühlen und Erzählen Abstand zum Tohuwabohu der eigenen Gefühle, so löst sein Roman das berühmte Phänomen des „Wertherfiebers“ aus, das in die entgegengesetzte Richtung weist.

Im Jahr 1774 setzt die geradezu massenhafte Bereitschaft ein, sich mit „Werther“ und seiner Gefühlswelt zu identifizieren.

Zum großen Erstaunen Goethes.

„Vorlesung aus Goethes Werther“, 1870, von Wilhelm Amberg in der Alten Nationalgalerie Berlin. Foto: Public Domain

Die „Wirkung dieses Büchleins“, resümiert er Jahrzehnte später, sei deshalb so „ungeheuer“ gewesen, weil es „genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch die Explosion, welche sich hierauf im Publikum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung [war] deswegen so groß, weil ein jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam.“

Ungebrochene Faszination

Wie Werther sich von seinen Gefühlen treiben ließ, so ließ sich auch die Mehrheit der Leser von den Gefühlen des Romanhelden mitreißen.

Im Lesen des Briefromans entsteht auch heute noch eine unmittelbare emotionale Nähe und Direktheit, die in den Bann zieht.
Ein Bann, aus dem sich der Autor im Prozess des Schreibens von eigenen belastenden Erlebnissen befreit hatte.

Die ungebrochene Faszination, die Goethes frühes Meisterwerk seit inzwischen 250 Jahren ausübt, zeigt sich in unzähligen Versionen und Interpretationen der ikonischen Geschichte: Trotz aller scheinbarer Rationalität steuert die Macht der Emotionen unser Handeln und Denken oft weit mehr, als es uns lieb ist – bis hin zur Zerstörung.

Jubiläumsausstellung
 WERTHER.WELTEN
bis zum 26. Januar 2025 im Stadtmuseum, Lottehaus und Jerusalemhaus der Stadt Wetzlar

Jeweils Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen
1. April bis 31. Oktober 10:00–17:00 Uhr
1. November bis 31. März 11:00–16:00 Uhr

Die spannende Publikation WERTHER.WELTEN zur gleichnamigen Ausstellung ist im Michael Imhof Verlag zum Preis von 25,00 Euro erschienen

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22 × 30 cm, 176 Seiten, 141 Farbabbildungen
ISBN 978-3-7319-1436-5



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