„Die Erschaffung Adams“ und das Königreich im Inneren
Michelangelos „Die Erschaffung Adams“ ist ein kleiner Ausschnitt eines größeren Freskos in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Dieser Ausschnitt ist ein ikonisches Bild und wird oft sowohl im Fernsehen als auch in der Literatur verwendet.
Eine Episode der US-Serie „Westworld“ bezog sich auf das Gemälde im Hinblick auf die Bedeutung von Bewusstsein. Der „Westworld“-Charakter Dr. Robert Ford, gespielt von Anthony Hopkins, nutzte „Die Erschaffung Adams“, um einer seiner menschenähnlichen Androiden-Kreationen zu vermitteln, „dass Bewusstsein das wahre Geschenk ist, das ein Schöpfer seiner Schöpfung machen kann“.
Ist diese Interpretation zufriedenstellend oder fehlt noch etwas? Deutet Michelangelo an, dass Gott nichts anderes als Bewusstsein ist? Oder dass das Bewusstsein die Verbindung zwischen dem Menschen und Gott ist? Ist hier gar nur sein Verständnis einer biblischen Geschichte repräsentiert?
In seinem Artikel „An Interpretation of Michelangelo’s ‚Creation of Adam‘ Based on Neuroanatomy“ (auf Deutsch etwa: „Eine Interpretation von Michelangelos ‚Die Erschaffung Adams‘ basierend auf Neuroanatomie“) schlägt Dr. Frank Lynn Meshberger vor, dass die Darstellung von Gott als Bewusstsein eine plausible Interpretation des Bildes wäre. Er behauptet, Michelangelos Sonette und sein Studium der Anatomie lieferten Beweise für diese Interpretation.
Michelangelos Sonette deuten darauf hin, dass sich die Schöpfung zuerst im Intellekt bildet, noch bevor die Hände ihre Aufgabe erfüllen können. Mit seinem Wissen, das er beim Sezieren von Leichen gewonnen hatte, malte er die Darstellung eines Querschnitts eines Gehirns, um die Quelle der Schöpfung festzuhalten: Gott. Das heißt, wenn man den Teil des Gemäldes betrachtet, der Gott, die ihn begleitenden Personen und das elliptisch geformte Gewebe hinter ihm darstellt, kann man die Form eines Gehirns im Querschnitt erkennen. Dies ist eine Interpretation, bei der das Immaterielle, also der Verstand und der Geist, das Materielle, also den Körper, beeinflusst.
Ist das eine überzeugende Interpretation von Michelangelos Werk?
Laut Dr. Michael Salcman, einem Neurochirurgen, „füllen unsere visuellen Systeme … Details aus und schaffen Bedeutung, wo vielleicht kein Muster oder keine Bedeutung beabsichtigt war.“ Der Mensch ist in der Lage, gegenständliche Dinge in ansonsten abstrakten Formen zu sehen, wie zum Beispiel unsere Erfahrung, Bilder in Wolken zu sehen. Dennoch hat das Spekulieren über die Möglichkeiten der Bedeutung auf eine seltsame Art und Weise selbst die Fähigkeit, Bedeutungen zu erzeugen.
Meine eigene Interpretation
Bevor ich auf die Interpretation von „Die Erschaffung Adams“ stieß – dass Gott Bewusstsein sei – hatte ich nur eine: Gott erschafft Adam nach Michelangelos Verständnis der katholischen Lehre. Wenn ich mich jedoch mit anderen Interpretationen beschäftige, erfrischt das meine eigene. Michelangelo war ein gläubiger Katholik und Jesus sagte: „Das Reich Gottes ist in euch.“ Vielleicht hat Michelangelo dieses Zitat während seiner Zeit beim Sezieren von Leichen wörtlich genommen, oder vielleicht benutzt er einfach seine Kunst, um das Immaterielle darzustellen.
Unabhängig von Michelangelos Intentionen erlebe ich das Fresko nun anders. Ich betrachte nun Adams Nacktheit. Wir werden nackt in diese Welt geboren und sterben und lassen alles zurück. Adam hat nichts als den Boden, auf dem er liegt, seinen Körper und die ausgestreckte Hand Gottes. Adam scheint als ein Vermittler zwischen dem Göttlichen und dem Weltlichen zu existieren. Wodurch aber wird dies ermöglicht? Warum kann Gott der ausgestreckten Hand Adams so nahe kommen? Könnte es seine Nacktheit sein?
Für mich stellt diese Nacktheit eine Abwesenheit von Egoismus dar. Er besitzt nichts und scheint ohne Verlangen nach irgendetwas zu sein. Selbst seine ausgestreckte Hand ist schlaff und ohne Enthusiasmus und er lehnt sich entspannt und bequem zurück. Dies ist jedoch nicht bezeichnend dafür, wie er über Gott denkt, da sein Gesicht von Anbetung erfüllt ist, während er das Göttliche anschaut. Es scheint vielmehr, dass dieser Zustand der ruhigen Selbstlosigkeit die Voraussetzung dafür ist, dass Gott nach dem greift, was er geschaffen hat.
Das Fresko selbst trägt den Titel „Die Erschaffung Adams“. Gott erschafft Adam auf eine Weise, die ihm gefällt. Es scheint mir, dass Adam sich in einem Zustand der selbstlosen Ruhe befindet. Ein Zustand, der frei von Begehrlichkeiten und Begierden ist. Und dieses Herz scheint Gott zu gefallen. Man könnte jedoch argumentieren, dass Adams Arm nur deshalb entspannt ist, weil Gottes ausgestreckter Arm gerade dabei ist, ihm Leben einzuhauchen. Adams Arm ist noch nicht mit Lebensenergie gefüllt. Sein Wesen, im Begriff lebendig zu werden, erklärt die entspannte Haltung und das eher träge Verhalten. Sein Ausdruck ist das einer Sehnsucht und des Wunsches, dass Gott die Aufgabe der Lebensspende erfüllt.
Wenn diese Interpretation zur Anwendung käme, wäre Adam nur auf Gott und nichts anderes ausgerichtet. Das, was in Adams körperlichem Ausdruck vorhanden ist, ob es nun die Anbetung Gottes ist oder die sehnsuchtsvolle Erwartung, das Lebendigsein zu empfangen, ist Ausdruck für die Beziehung des Geschöpfes zum Leben erschaffenden Gott.
Vielleicht aber hat Gott die Aufgabe hier bereits erfüllt: Adam ist bereits belebt. Und Adam wird nicht zum Leben erweckt, sondern reagiert auf das Geschenk des Lebens. Er befindet sich in einer zurückgelehnten Körperhaltung und es gibt einen Abstand zwischen ihren Händen und eine Ehrfurcht auf seinem Gesicht, als ob Adam seine Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens zeigen würde. Dies deutet für mich darauf hin, dass Michelangelo Adam absichtlich in einer belebten, aber zurückgelehnten, entspannten und selbstlosen Pose in der Gegenwart Gottes als Ausdruck seiner Dankbarkeit für die Gaben Gottes dargestellt hat.
Ich bin nicht ganz davon überzeugt, dass Michelangelo das Bild eines Gehirns im Querschnitt geschaffen hat, in dem Gott sitzt; aber wenn er es getan hat, dann wohl aus demselben Grund: Dass das Göttliche uns nur dann zu erreichen vermag, wenn wir uns in einem ruhigen und selbstlosen Geisteszustand befinden. Der Zustand unseres Geistes ist das, was uns erlaubt, das Göttliche während unseres kurzen Aufenthalts hier auf der Erde zu erfahren.
Eric Bess ist bildender Künstler und Doktorand am Institute der Bildenden Künste „Institute for Doctoral Studies in the Visual Arts“ (IDSVA) in Portland. Maine, USA.
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