Den Blick nach Innen richten

Andere kann man nicht ändern, sich selbst aber schon.
Titelbild
Foto: istockphoto
Von 8. Januar 2022
Jetzt neu: Epoch Times Wochenzeitung auch als Podcast

Es gibt so vieles, was uns stört – in erster Linie sind es andere Menschen. Alles kann unser Wohlbefinden stören, wenn wir es zulassen.

Wenn uns etwas stört, neigen wir gerne dazu, jemand anderem die Schuld dafür zu geben. Wir beschuldigen den anderen, einen Fehler gemacht und uns damit Leid zugefügt zu haben. Sobald wir die vermeintliche Ursache für unsere Störgefühle ausgemacht haben, versuchen wir in der Regel, auf den Störfaktor einzuwirken. Man möchte das Verhalten der anderen Person dahingehend verändert sehen, was man selbst für richtig hält oder was einen zumindest weniger stört.

„Über sich selbst zu reflektieren ist der Schritt, der wirklich vom Leiden befreit und nichts mit Schuldzuweisung an andere zu tun hat.“

Es ist nichts falsch daran, eine Situation, die wir nicht mögen oder die uns unglücklich macht, verändern zu wollen. Solche Bemühungen sind ein kluger und angemessener Weg, unser Leben aktiv zu gestalten. In diesem Artikel geht es aber nicht darum, wie man andere, mit denen man zu tun hat, etwas geschickter verändern kann. Hier geht es darum, was zu tun ist, wenn wir sie nicht ändern können und stattdessen die Situation als Chance nutzen, um etwas über uns selbst zu lernen.

Nennen wir es Plan B

Wenn wir die Ursache unseres Leidens nicht ändern können, neigen wir dazu, der anderen Person oder der Situation hierfür die Schuld zu geben. Das mag für kurze Zeit eine gewisse Erleichterung bringen. Aber was passiert, wenn wir uns durch diese andauernden Schuldzuweisungen nicht besser fühlen? In welchen Zustand geraten wir, wenn wir an den äußeren Umständen nichts ändern können?

Befreiung aus dem Teufelskreis von Schuldzuweisung und Fixierung geschieht dann – und das mag ironisch klingen –, wenn wir die Aufmerksamkeit von der Person, die wir für schuldig halten, wegnehmen und sie stattdessen auf uns selbst richten. Wenn man hört, man solle besser auf sich selbst schauen, so denken manche, dass man nun stattdessen den Schuldigen bei sich selbst finden soll. Das ist jedoch eine falsche Vorstellung.

Ich meine damit nicht, dass Sie an irgendetwas schuld sind, noch schlage ich vor, bei sich selbst nach der Schuld zu suchen. Selbstuntersuchung, der Schritt zur wirklichen Befreiung von Leiden, hat nichts mit Schuldgefühlen zu tun.

Dem Teufelskreis der Schuldzuweisung entkommen

Die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten, bedeutet, Fragen zu stellen: Was löst diese Situation oder das Verhalten der Person in mir aus? Welcher Schmerz kommt in mir hoch, wenn ich mit diesem Verhalten oder jener Realität konfrontiert werde?

Ich selbst hatte über viele Jahre eine Beziehung mit einem „Schuldzuweiser“. Probleme in seinem Leben waren grundsätzlich immer die Schuld von jemand anderem. Im Gespräch kamen wir nie über diesen Punkt hinaus. Jahrelang versuchte ich, ihn dahingehend zu verändern, mit Neugier die leidbehafteten Situationen als Gelegenheit zu nutzen und auf diese Weise unentdeckte Wahrheiten über sich selbst ans Licht zu bringen.

Durch diesen Prozess wurde ich leider auch selbst immer mehr in Schuldzuweisungen verstrickt. Ich machte seine Einstellung für mein persönliches Leiden verantwortlich. „Wenn er nicht ein solcher Schuldzuweiser wäre“ – so dachte ich – „dann müsste ich nicht so leiden“. Letztendlich änderte er sich nicht, ich änderte mich auch nicht, und die gesamte Situation blieb so wie sie war.

Schließlich bin ich dazu übergegangen, meine eigenen Ratschläge auch selbst zu befolgen. Indem ich den Fokus vom anderen weg verlagerte, wurde ich neugierig auf meine eigene innere Erlebniswelt. Dabei ging es nicht darum herauszufinden, was auch ich (falsch) gemacht habe und was zu dieser Situation geführt hatte, sondern mir ging es vielmehr darum, welche Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen oder Anschauungen durch sein Verhalten in mir ausgelöst wurden: Was erlebte ich da gerade, was die Vorwürfe so schwer erträglich machte?

Was ich entdeckt hatte, war schlicht, aber tiefgreifend – und heilsam. Ich fand zum Zentrum meiner eigenen Wahrheit. Es ist interessant festzustellen, dass sich das Verhalten meines Partners nicht verändert hat, nur weil ich herausfand, warum ich seine Vorwürfe als so schmerzhaft empfand. Was dies jedoch bewirkt hat, war, dass sich mein unerträgliches Leiden aufgrund dieser Lage erheblich verringert hat.

Anstatt zuzulassen, dass sein Verhalten in mir einen schrillen Feueralarm auslöste – wie das Blinken eines roten Notfall-Lichtes – konnte ich nun sein Verhalten beobachten, wohl wissend, womit es mich in Berührung brachte, dabei ruhig bleibend und nicht sofort reagierend. Ich sah keinen Anlass mehr, einer unbekannten, unerträglichen Erfahrung in mir selbst entkommen zu müssen. In einem freundlichen Ton konnte ich zu mir selbst sagen: „Oh ja, ich verstehe, dass diese Vorwürfe dies und jenes in mir auslösen, was mit meiner persönlichen Geschichte zusammenhängt.“

Hiermit hat sich die ganze Angelegenheit dann erstaunlicherweise von selbst erledigt. Der bedrohlichen Erfahrung, die so viel Schmerz verursacht hatte, wurde die Energiezufuhr abgeschnitten. So wie wenn man ein Verbindungskabel durchtrennt. Das Gefühl, sich in einer Notlage zu befinden, weil man eine Situation oder ein bestimmtes Verhalten meint, beenden zu müssen, ließ nach, als mir die unmissverständliche Wahrheit dessen bewusst wurde, was in mir selbst vorging. Mehr braucht es nicht, um Leiden zu erkennen.

Wir wissen alle, dass wir das Verhalten der anderen weder kontrollieren noch eine andere Person dazu bringen können, sich ändern zu wollen. Wir können aber immer wählen, unsere Aufmerksamkeit nach innen zu lenken und die Linse der Neugierde auf uns selbst zu richten. Und denken Sie bitte daran: Unser eigenes Erleben zu untersuchen, bedeutet nicht, Leid verursachendes Verhalten von jemand anderem zu dulden; wir gehen auch nicht davon aus, selbst dafür alle Verantwortung übernehmen zu müssen.

Mit Neugier zu beobachten, was in einer bestimmten Situation in uns vorgeht – diese zu benennen, zu verstehen, die dazu gehörige Geschichte zu entschlüsseln und ihr mit Mitgefühl zu begegnen –, dies ist der sicherste Weg, sich aus dem Kreislauf von Schuldzuweisungen und dem Bedürfnis, alles, was uns missfällt, ändern zu müssen, zu befreien.

Letztlich ist die Selbsterkenntnis das mächtigste und tiefgreifendste Gegenmittel, um aus dem Leiden herauszukommen.

Nancy Colier ist Psychotherapeutin, interreligiöse Seelsorgerin, Autorin, Rednerin und Leiterin von Workshops. Dieser Artikel erschien im Original auf The Epoch Times USA (deutsche Bearbeitung von uw).



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion