Aristoteles‘ drei Arten der Freundschaft

Die meisten Deutschen glauben, dass Freundschaft wichtig für ihr Glück ist. Schauen wir uns an, wie Aristoteles eine gute Freundschaft beschrieb.
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Statue von Aristoteles.Foto: iStock
Von 2. November 2024

Im Jahr 2011 erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 30. Juli zum „Internationalen Tag der Freundschaft“. Sie bekräftigte, dass wir durch Freundschaft „zu den grundlegenden Veränderungen beitragen können, die dringend erforderlich sind, um dauerhafte Stabilität zu erreichen, ein Sicherheitsnetz zu knüpfen, das uns alle schützt, und die Leidenschaft für eine bessere Welt zu wecken, in der alle für das Gemeinwohl vereint sind“. Aber warum verbindet uns Freundschaft? Warum ist sie für das Gemeinwohl unverzichtbar?

Diese Fragen haben im Laufe der Geschichte viele Denker beschäftigt. Allen voran der griechische Philosoph Aristoteles, dessen „Nikomachische Ethik“ eine klare Auseinandersetzung mit dem komplexen Wesen und der transformativen Kraft der Freundschaft bietet.

Die „Nikomachische Ethik“

Die alten Griechen glaubten, dass höchstes Glück ohne Freundschaft nicht möglich sei. Aristoteles‘ Lehrer und Vorgänger, Platon, schrieb Dutzende Dialoge, in denen sein wortgewandter Mentor Sokrates eine Vielzahl von Gesprächspartnern durch schwierige Diskussionen führte. Manchmal irritierte Sokrates sie, und manchmal schmeichelte er ihnen mit unangebrachten Komplimenten. Aber immer ließ er sich ehrlich auf sie ein, um gemeinsam die Wahrheit zu entdecken. Er behandelte sie alle wie Freunde.

Titelseite der „Nikomachischen Ethik“ von Aristoteles. Foto: Public Domain

Der Philosoph Epikur, der wie Aristoteles im 3. Jahrhundert v. Chr. lebte, schrieb: „Die Freundschaft tanzt um die Welt und verkündet uns allen, die Augen für das Glück zu öffnen.“ Epikurs Philosophie wird oft missverstanden, als fördere sie ein selbstsüchtiges Streben nach niederen Vergnügungen. Doch der Grieche schätzte Klugheit, Einfachheit und vor allem Freundschaft so hoch, dass er sagte, ein weiser Mensch fühle das Leid eines Freundes nicht weniger als sein eigenes und würde eher für einen Freund sterben, als ihn zu verraten.

Für die Philosophen der Antike war Freundschaft mehr als nur ein Konzept, über das man in Büchern oder bei akademischen Versammlungen diskutieren konnte. Platon, Epikur und viele andere griechische und römische Philosophen tauschten häufig Briefe mit Freunden aus, in denen sie persönliche Ratschläge erbaten oder anboten. Zu ihren Bildungsbemühungen gehörte auch eine unermüdliche Mentorenschaft zwischen Lehrern und Schülern. Ein konzeptionelles Verständnis von Freundschaft sollte ihnen helfen, diese im Alltag zu praktizieren.

In diesem Zusammenhang verfasste Aristoteles die „Nikomachische Ethik“. Das Buch, das nach Aristoteles’ Tod von seinem Sohn Nikomachos herausgegeben wurde, ist bis heute einer der einflussreichsten Texte der Geschichte. Es beginnt mit einer Erörterung des griechischen Begriffs „Eudaimonia“, was auf Deutsch „Glück“ bedeutet. Es folgt eine akribische Untersuchung des Wesens der Tugend und der Charaktereigenschaften, die wir brauchen, um das beste Leben zu führen. Aristoteles’ Analyse der Freundschaft füllt zwei von zehn Büchern und zeugt von der Bedeutung der Freundschaft im Denken des Griechen.

„Aristoteles unterrichtet Alexander“, 1895, von Jean Leon Gerome Ferris. Foto: Public Domain

Nutzen

Zu Beginn seiner Abhandlung unterscheidet Aristoteles drei Arten der Freundschaft: die Freundschaft der Tugend, die Freundschaft der Lust und die Freundschaft des Nutzens. Bei der Freundschaft des Nutzens geht es um die Erlangung von irdischen Vorteilen. Angenommen, jemand weiß, dass Sie ein Auto haben. Sie kennen diese Person recht gut, sehen sie aber nur gelegentlich. Eines Tages bittet sie Sie um eine Fahrt zum Flughafen. Sie stimmen aus Großzügigkeit zu. Dann verschwindet die Person für zwei Wochen. Aus heiterem Himmel, ohne zu fragen, wie es Ihnen seit der letzten Begegnung ergangen ist, bittet sie Sie erneut um eine Mitfahrgelegenheit, dieses Mal ins Einkaufszentrum.

Aristoteles würde dieses Beispiel als einen klassischen Fall von Nutzenfreundschaft bezeichnen. Freunde, die die Gesellschaft des anderen suchen, um etwas zu gewinnen, lieben sich nicht wirklich. Sie lieben das, was sie glauben, dass der andere ihnen bieten kann. Das Essen, das Geld oder der Status, den sie durch ihre Freundschaft erlangen, haben Vorrang vor dem Wohlergehen des Freundes.

Aber warum sollten wir diese instrumentelle Dynamik als „Freundschaft“ bezeichnen? Das griechische Wort „philia“ bedeutet nicht Freundschaft im modernen Sinne. Es kann auch Neigung, Verlangen oder Anziehung bedeuten. Für Aristoteles reicht es aus, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, weil er etwas hat, was wir haben wollen, um diese Anziehung als „Freundschaft“ zu bezeichnen.

Lust

Das Gleiche gilt für Freundschaften der Lust, obwohl die Lust oder das Vergnügen weniger offensichtlich materialistisch sind als der Nutzen. Wir schätzen die Gesellschaft humorvoller Menschen nicht um ihrer selbst willen, sondern weil wir ihren Humor mögen. Aristoteles sagt: „In einer Freundschaft, die auf Nutzen oder Lust beruht, liebt der Mensch seinen Freund um seines eigenen Vorteils oder seiner eigenen Lust willen, und nicht, weil er geliebt wird, sondern weil er nützlich oder angenehm ist.“

Beziehungen, die auf Nutzen und Lust beruhen, sind im Grunde instrumentell. Sie beruhen „auf einem Zufall“ und „brechen leicht ab“. Wenn Freunde aufhören, humorvoll zu sein, oder wenn sie ihr Auto verkaufen, profitieren wir nicht mehr von ihrem Humor oder ihren materiellen Gütern und wir hören auf, ihre Gesellschaft zu suchen.

„Alkibiades, der die Lehren des Sokrates erhält“, 1776, von François-André Vincent. Öl auf Leinwand. Musée Fabre, Montpellier, Frankreich. Foto: Public Domain

Tugend

Aristoteles verdammt Nutzen und Lust nicht völlig, denn beide haben ihre Vorzüge. Er ist jedoch kompromisslos in seiner Behauptung, dass nur eine Freundschaft der Tugend das wahre Glück in diesem Leben fördern kann.

Die Freundschaft der Tugend ist die beste, aber auch die seltenste. Sie bereitet Freude, denn Tugend befriedigt. Aber ihre Freude rührt von einer reineren Gesinnung her, die das Wohl des anderen um des anderen willen wünscht. Sie ist tiefer und dauerhafter, weil sie nicht von äußeren Umständen abhängt. Nur wer ohne Hintergedanken das Wohl des anderen will, ist „Freund im wahrsten Sinne des Wortes, denn er liebt den anderen um seiner selbst willen und nicht zufällig“. Diese Voraussetzung – bedingungslose Liebe – ist notwendig, damit die Tugend unter Freunden gedeihen kann.

Neben der bedingungslosen Liebe erfordert diese Form der Freundschaft auch eine gründliche Kenntnis des anderen. Aristoteles soll behauptet haben, dass ein Freund „eine Seele ist, die in zwei Körpern wohnt“. Der römische Redner Cicero griff diesen Gedanken in seinem Werk „De Amicitia“ (Über die Freundschaft) auf, in dem er einen Freund als jemanden beschreibt, „der sowohl sich selbst liebt als auch einen anderen begehrt, dessen Seele er so mit der seinen verschmelzen kann, dass aus zwei Seelen fast eine wird“. Nur Zeit, Fürsorge und echtes Vertrauen können diese tiefe Bindung ermöglichen.

Aristoteles ging davon aus, dass die an dieser Freundschaft Beteiligten bereits vor ihrer Verbindung tugendhaft sind. Er glaubte, dass eine tugendhafte Freundschaft nur zwischen Menschen entstehen kann, die tugendhaft genug sind, um diese Art von Freundschaft überhaupt zu schätzen. Vielleicht war Aristoteles hier etwas engstirnig. Es scheint möglich zu sein, dass ein tugendhaftes Vorbild sich mit einem weniger tugendhaften Menschen anfreundet und ihm hilft, bessere Gewohnheiten zu entwickeln. Tugend ist das Ziel, aber nicht notwendigerweise die Voraussetzung. Diese Annahme liegt erfolgreichen Jugend- und Mentorenprogrammen in der ganzen Welt zugrunde, die sich auf die universelle Fähigkeit der Freundschaft stützen, um Tugend unabhängig von den Umständen zu vermitteln.

Freundschaft ist unerlässlich. Sie ist ein grundlegendes gesellschaftliches Gut. Sie verbindet uns, weil sie Liebe und Vertrauen erfordert, die uns im Herzen und im Geist näher zusammenbringen. Sie trägt zum Gemeinwohl bei, weil sie uns hilft, unsere gemeinsame Menschlichkeit zu kultivieren und uns im anderen zu erkennen.

Laut einer YouGov-Umfrage aus dem Jahr 2022 haben 64 Prozent der Deutschen einen besten Freund oder eine beste Freundin. In einer Umfrage von 2019 gaben 11 Prozent der Deutschen aber an, keine engen Freunde zu haben. Das mag zwar wenig erscheinen, umgerechnet auf die heutige Einwohnerzahl Deutschlands wären das aber über 8 Millionen Menschen.

Wenn Freundschaft ein grundlegendes gesellschaftliches Gut ist, müssen wir dafür sorgen, dass sie in der Gesellschaft gefördert wird. Welche Anreize haben wir geschaffen, um die moralische Entwicklung der Menschen zu fördern? Die Antworten sind schwierig, aber wir können mit Aristoteles beginnen.

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel „Aristotle’s 3 Types of Friendship“. (deutsche Bearbeitung jw)



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