Anton Tschechows 8-Schritte-Programm zur Suchtbekämpfung

1886 schrieb Anton Tschechow einen Brief an seinen älteren Bruder Nikolai, weil er sich Sorgen um dessen Alkoholismus und die mangelnde Entfaltung seiner Fähigkeiten machte.
Titelbild
Die Selbstgefälligkeit des Trinkens ist Eitelkeit. „Der letzte Tropfen“, um 1629, von Judith Leyster. Philadelphia Museum of Art.Foto: Public Domain
Von 6. Juni 2022

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„Als dein Bruder und Vertrauter versichere ich dir, dass ich dich verstehe und aus tiefstem Herzen mit dir sympathisiere. Ich kenne alle deine guten Eigenschaften wie meine Westentasche.“

Diese Worte schrieb Anton Tschechow (1860-1904) im Jahr 1886 in einem Brief an seinen älteren Bruder Nikolai (1858-1889). Der jüngere Tschechow, der heute als Meister der Kurzgeschichte und geschickter Dramatiker gilt, schrieb diesen Brief aus Sorge um den Alkoholismus seines Bruders und dessen Unfähigkeit, seine künstlerischen und literarischen Fähigkeiten zu entwickeln.

Der Brief spiegelt Tschechows eigenes Schreibtalent wider. Er schafft es, schroff, ehrlich, humorvoll, fürsorglich, zärtlich und streng zu sein. Er schreibt zum Beispiel:

„Du beklagst dich oft bei mir, dass die Leute dich ‚nicht verstehen‘. Aber selbst Goethe und Newton haben sich nicht darüber beschwert. Christus schon, aber er sprach von seiner Lehre, nicht von seinem Ego. Die Menschen verstehen dich nur zu gut. Wenn du dich selbst nicht verstehst, kann niemand anderes etwas dafür.“

Sicherlich haben wir alle schon einmal gehört, dass sich ein Freund oder ein Familienmitglied in ähnlicher Weise beschwert hat.

Während er Nikolai dazu drängt, „seine Wodkaflasche zu zerschlagen, sich auf das Sofa zu legen und ein Buch in die Hand zu nehmen“ – er empfiehlt Turgenjew – behauptet Tschechow, dass der Kern von Nikolais Unwohlsein und mangelndem Erfolg sein „extremer Mangel an Kultur“ ist. Dann listet er acht Merkmale eines zivilisierten Menschen mit einigen Beispielen auf.

„Ein Gemälde ohne Titel“, 1887, von Paul Fischer. Nationalmuseum für Kunst, Architektur und Design in Oslo, Norwegen. Foto: National Museum of Art, Architecture and Design/CC BY-SA 4.0

Universelle Grundlagen

Tschechow schlägt Nikolai vor, dass seine Unsicherheiten und schlechten Angewohnheiten verschwinden könnten, wenn er versucht, kultivierter zu werden. Dieser Vorschlag zur Heilung von Alkoholismus mag uns heute ungewöhnlich und zum Scheitern verurteilt erscheinen, aber wenn wir über Tschechows Ausführungen zum Verhalten zivilisierter Menschen nachdenken, entdecken wir einige Wahrheiten. Hier die ersten Sätze seiner Acht-Punkte-Beschreibung zivilisierter Menschen im Wortlaut:

  1. Sie respektieren das Individuum und sind daher immer nachsichtig, sanft, höflich und nachgiebig.
  2. Ihr Mitgefühl geht über Bettler und Katzen hinaus.
  3. Sie respektieren das Eigentum anderer und begleichen daher ihre Schulden.
  4. Sie sind aufrichtig und fürchten Lügen wie die Pest.
  5. Sie setzen sich nicht herab, nur um Mitleid zu erregen.
  6. Sie kümmern sich nicht um Eitelkeiten.
  7. Wenn sie Talent haben, schätzen sie es.
  8. Sie kultivieren ihr ästhetisches Empfinden.

Viele Punkte in Tschechows Liste sind so alt wie die westliche Zivilisation selbst. Die Bürger der Römischen Republik hätten zustimmend genickt, wenn er vor Vulgarität und Extravaganz warnte. Die Ritter des Mittelalters hätten die Idee, Talente zu schätzen, voll und ganz verstanden: „Sie opfern Komfort, Wein, Frauen und Eitelkeit“, um ihre Fähigkeiten zu bewahren und ihrer Berufung zu folgen.

Die Höflinge der Renaissance, die Gründer Amerikas, die Damen und Herren des viktorianischen Zeitalters: Die Sitten dieser Menschen waren sehr unterschiedlich, aber das Fundament der Höflichkeit, auf dem diese Sitten beruhten, findet sich in Tschechows Regeln wieder. Und wie die Kodizes, die unsere Vorfahren befolgten, gehen Tschechows Beobachtungen darüber, was zivilisiertes Verhalten ausmacht, über die Kenntnis von Poesie, Malerei oder Musik oder eine flüchtige Praxis der Etikette hinaus.

Nein – wie er seinem Bruder sagt: „Wenn du zivilisiert sein und nicht unter das Niveau des Milieus fallen willst, dem du angehörst, reicht es nicht, die „Pickwick Papers“ zu lesen und einen Monolog aus Faust auswendig zu lernen. … Man muss ständig daran arbeiten, Tag und Nacht. Du darfst nie aufhören zu lesen, dich zu vertiefen, deinen Willen zu üben. Jede Stunde ist kostbar.“

„Unablässig daran zu arbeiten, Tag und Nacht“ – das heißt, täglich ein zivilisiertes Leben herstellen und aufrechterhalten – ist eine tiefgreifende Einsicht, die nicht nur in unserer schnelllebigen Zeit, sondern auch in der Geschichte oft übersehen wird. Die alten Römer sind ein hervorragendes Beispiel für ein Volk, dessen uralte und weise Grundlagen für das Überleben und den Erfolg, wie zum Beispiel starke Familien und die Strenge und Pflichten der Bürgerschaft, im Laufe der Zeit ausgehöhlt wurden, worauf das Reich zerfiel und unterging.

Uns näher liegt der Erste Weltkrieg, eine Katastrophe mit Auswirkungen, die bis heute nachhallen, eine Katastrophe, die zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass die damaligen Führer nicht Tag und Nacht daran arbeiteten, die Zivilisation zu erhalten. Anstatt die möglichen Auswirkungen eines solchen Krieges auf die gesamte europäische Kultur zu bedenken, konzentrierten sich Monarchen und Politiker stattdessen auf die begrenzten Interessen ihrer Länder. Das Ergebnis war ein Konflikt, der sowohl Europa als auch die Welt für immer veränderte.

Zivilisiertes Verhalten erfordert Mitgefühl. „Ein verwundeter dänischer Soldat“, 1865, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen, Dänemark. Foto: PD-US

Ein Porträt von Anton Tschechow, 1898, von Osip Braz. Staatliche Tretjakow-Galerie. Foto: PD-US

Lektionen und Fragen

Leider beachtete Nikolai die Warnungen und Ermutigungen des Briefes seines Bruders nicht. Er starb drei Jahre später an Tuberkulose und seiner Wodka-Sucht. Anton Tschechow starb ebenfalls in relativ jungen Jahren an Tuberkulose, aber nicht, bevor er der Welt einen ganzen Koffer voller Kurzgeschichten, Theaterstücke und komödiantischer Sketche hinterlassen hatte.

Wenn wir Nikolais Leben und Tod betrachten – sein Talent als Maler, seinen Kampf mit der Flasche, seine Tage, die er als Landstreicher auf den Straßen Moskaus verbrachte –, erkennen wir die Weisheit in Tschechows Brief noch deutlicher. Zum Teil wegen seiner Sucht konnte oder wollte Nikolai die Ratschläge seines Bruders nicht befolgen, was zu seinem Scheitern als Künstler führte.

Tschechows Gedanken darüber, was es bedeutet, als zivilisierter Mensch zu leben, können auch als Spiegel für uns dienen, wobei das Spiegelbild darin bestimmte Fragen aufwirft.

Sind wir zum Beispiel nachsichtig, sanft und höflich zu anderen? Ist unser Mitgefühl echt oder gekünstelt – oder halten wir es für besondere Anlässe und vertraute Empfänger zurück? Zahlen wir unsere Schulden ab? Sind wir ehrlich oder handeln wir mit Lügen? Spielen wir die Opferkarte aus und suchen das Mitleid anderer? Schätzen wir unsere Talente, indem wir hart daran arbeiten, sie zu erhalten und zu verbessern? Kultivieren wir unser ästhetisches Empfinden in der Art und Weise, wie wir unser Leben gestalten?

Und wie wäre es, wenn wir ähnliche Fragen an unsere Kultur im Allgemeinen stellen würden? Sind wir, ausgehend von Tschechows Weltbild, ein zivilisiertes Volk? Oder werden wir, wie Nikolai, die Urheber unserer eigenen Zerstörung sein?



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