Altes Wissen und neuer Mut
Im November 2022 wurde in Hamburg erstmals der Vermittlungspreis der deutschen Stiftung Denkmalschutz verliehen – mit einer Begründung, die aufhorchen lässt.
Ausgezeichnet wird die noch junge Arbeitsgemeinschaft Historisches Ahrtal e.V. „für ihr schnelles, kompetentes, improvisationstalentiertes, menschliches und tatkräftiges Engagement der Denkmalvermittlung unter außergewöhnlichen Umständen und Bedingungen.“ Starke Worte, die zugleich nur andeuten können, um welche Bedingungen und Kraftanstrengungen es sich handelte.
Seit der Katastrophe im Ahrtal sind inzwischen 18 Monate vergangen, die Tragödie, die Land und Leute damals traf, ist immer noch allgegenwärtig. Am 13. Juli 2021 bahnte sie sich an, am 14. Juli brach sie vollends über die malerische Weinbauregion herein. Wie über Nacht war im Ahrtal alles anders und ist es auch heute noch. Seit den Tagen der Jahrhundertflut, die so viele Menschen in Trauer und Verzweiflung stürzte, ist jedoch auch überall echte Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt zu finden, denn in der Not zeigen sich wahre Helden, Freunde und Helfer.
Robin Hood mit der Sprühdose
Inzwischen ist aus der überwältigenden Hilfsbereitschaft in akuter, tiefer Not ein tapferer Marathon des Wiederaufbaus geworden.
„In den ersten Wochen nach der Katastrophe war das Telefonnetz völlig kaputt. Wir organisierten uns vor allem über soziale Medien“, erzählt der Architekt Fritz Vennemann und meint mit „wir“ eine Gruppe von Bürgern, die sich über WhatsApp fand und sich bald – ebenso anspornend wie Mut machend – die „Ahrbauhelden“ nannte.
„Das Ausmaß der Zerstörung war unfassbar“, erinnert er sich. „Damals gingen die Leute vom Technischen Hilfswerk von Haus zu Haus und besprühten die Gebäude mit blauen Zeichen, um sie zum Abriss freizugeben. Besonders viele historische Fachwerkhäuser waren darunter. Doch wenn man sich auskennt, weiß man, dass Fachwerkbauten fast immer gerettet werden können. Wir gingen also auch von Fachwerkhaus zu Fachwerkhaus, übersprühten die Abbruchzeichen mit weißer Farbe und machten stattdessen grüne Haken dran. Das war so ein bisschen wie Robin Hood“, sagt er mit Schmunzeln in der Stimme.
Nur Machen zählt
Die akute Gefahr für viele historische Bauten, die den Charakter der Dörfer und Städte des Ahrtals seit Jahrhunderten prägen, wurde so schnell und unbürokratisch abgewendet, allen Beteiligten war jedoch klar, dass dies nur der erste wichtige Schritt zur Rettung der traditionellen Bausubstanz sein konnte.
Bereits im August 2021 kam es deshalb zur Gründung des gemeinnützigen Vereins Historisches Ahrtal e.V., der sich seitdem mit Herzblut und Fachwissen für den Erhalt der typischen Baukultur des Ahrtals einsetzt. Innerhalb kürzester Zeit entstand rund um diesen Verein ein beachtliches Netzwerk. Es verbindet bis heute Baustoffhändler, Zimmereibetriebe, Architekten, Ingenieure, Lehmbauer, Fachhochschulen, Jugendbauhütten und viele mehr.
Sie alle arbeiten am gemeinsamen Ziel: den ehemaligen Hausbewohnern und -besitzern sowie den historischen Bauwerken schnelle und rettende Hilfe zukommen zu lassen – so einfach, direkt, günstig und konkret wie möglich. Vor allem galt es den erschütterten Menschen und ihrer geplagten Heimat mitten im Chaos eine echte Perspektive zu geben.
„In so einer dramatischen Lage helfen keine schönen Worte, da zählt nur das Machen“, sagt Vennemann, kenntnisreicher Fachmann und seit Gründung Vorsitzender des Vereins.
Hilfe zur Selbsthilfe
„Fachwerkbau ist eine geniale und einfache Technik und ist deshalb auch einfach wieder herzustellen. Das Raumtragwerk aus Eichenholz verzeiht viel und bildet selbst immense Krafteinwirkung wie die der gewaltigen Wassermassen lediglich in Verschiebungen ab. Die Häuser verlieren aber nicht ihre statische Standfestigkeit“, erklärt er.
„Fachwerk wurde traditionell immer von Zimmerleuten erstellt, das Füllen der Fächer wiederum erledigten früher die Bauherren meist selbst. Das war und ist sowohl kostengünstig als auch nachhaltig und ist, wenn man einige Grundlagen und Tricks kennt, auch heute nicht schwer.“
Aus diesem Gedanken heraus entwickelte der Verein die Idee kostenloser Bauseminare, um altbewährtes Wissen vermitteln und einen konkreten Weg aus dem Gefühl der Ohnmacht weisen zu können.
Die Seminare sind immer ausgebucht. Sie lassen altes handwerkliches Können wieder aufleben und haben noch einen weiteren großen, ganz praktischen Nutzen: Die Teilnehmer wenden die neu erlernten, seit Jahrhunderten bewährten Techniken in echten Wiederaufbauprojekten an und beschleunigen so deren Rettung. „Vor dem Winter haben wir so einige Objekte noch perfekt und wetterfest zugebracht“, freut sich der Vereinsvorsitzende. „Nun kann die Rettung dieser Fachwerkbauten im Inneren weitergehen.“
In Jugendbauhütten altes Wissen neu entdecken
Eine große Hilfe ist hier und bei allen anfallenden Rettungsanstrengungen des Vereins die Zusammenarbeit mit den Jugendbauhütten der deutschen Stiftung Denkmalschutz, die ihre kostenlose Unterstützung sehr schnell nach der Katastrophe im Ahrtal anboten.
„Es ist eine wahre Freude zu sehen, was diese jungen Leute draufhaben und wie wissbegierig sie während ihrer Zeit bei der Jugendbauhütte ihre Fähigkeiten erweitern“, berichtet Vennemann.
Begleitet und beraten werden die jungen Helfer von erfahrenen Handwerkern. Ein immenses Glück für alle, denn die historischen Fachwerkbauten werden so fachgerecht und in größter Sorgfalt wiederhergestellt, und die nächste Generation entdeckt ganz nebenbei täglich kluge Baulösungen und verschüttetes Wissen wieder neu.
„In den letzten Jahrzehnten wurden die Fächer oft einfach mit Ytong-Steinen gefüllt, was das Fachwerk bauphysikalisch extrem gefährdete. Jetzt haben wir die einmalige Chance, gleich alles richtig zu machen.“ So werden die Fächer zwischen den Tragwerksbalken wieder traditionell mit Lehm gefüllt, einem uralten und äußerst nachhaltigen Baustoff. „Wäre das Wasser der Flut nicht so kontaminiert gewesen, wir hätten den Lehm des Bestandes sogar reaktivieren können“, sagt der Architekt.
Die alten Füllungen mussten jedoch entfernt und durch frischen Lehm ersetzt werden. „Das Eichenholz der Balken ist dagegen so dicht, dass die Verschmutzung nicht eindringen konnte. Eiche kann man äußerlich aber wunderbar reinigen.“ Betreut und wiederaufgebaut werden Bauwerke aus der Blütezeit des Fachwerks, dem 17. Jahrhundert bis hin zu Fachwerk des 19. Jahrhunderts.
Wunderbare Überraschungen
„Wir machen bei dieser Arbeit immer wieder die schönsten Entdeckungen“, berichtet Vennemann. Ein großer Kummer ist seinen Vereinskollegen und ihm das bereits vor der Flut zu beklagende Verschwinden vieler schöner, erhaltenswerter Fachwerkbauten, das sich nach der Flut zu beschleunigen droht.
„Wegreißen geht schnell, der Verlust an Baukultur ist aber durch nichts mehr rückgängig zu machen. Für alle diese Gebäude hätte es eine echte Überlebenschance gegeben.“
Ein besonders schönes Beispiel eines in letzter Minute geretteten historischen Fachwerkbaus steht im Ort Dernau. Als Fritz Vennemann ihn erstmals besichtigte, befand er sich in einem beklagenswerten Zustand und war vom Abriss bedroht. Im ersten Stock erwartete den Architekten jedoch eine sensationelle Überraschung. Die Flut hatte nur Zentimeter vor einer prächtigen Kassettendecke haltgemacht. Die sogenannte „Kölner Decke“ ist eine wertvolle Rarität und ließ sofort eine besondere Nutzung des Raumes erahnen. Nachforschungen ergaben, dass der Raum im 19. Jahrhundert als jüdischer Gebetsraum genutzt worden war. Im historischen Gebäude hat nun eine Jugendbauhütte ihr Winterlager aufgeschlagen und arbeitet an der fachgerechten Wiederherstellung der Innenräume.
Sobald es Witterung und Temperaturen zulassen, werden im Frühjahr die Bauseminare, die Außenarbeiten und der für alle sichtbare Wiederaufbau der Baukulturschätze erneut beginnen. Mit den wärmenden Sonnenstrahlen wird auch die Zuversicht wieder augenscheinlich und greifbar werden, die vielen – durch die Arbeit vieler – Hoffnung und Freude schenkt. Der Marathon im Ahrtal geht weiter.
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