Vorbeugen oder krank werden – das ist hier die Frage

Was Lieschen Müller durch den Kopf geht angesichts eines kranken Systems
Titelbild
Die Bremer Stadtmusikanten geschaffen von Gerhard Marcks am Bremer Rathaus. (Foto: Gero Brandenburg / GNU FDL)
Von 5. Juli 2006

Was bleibt nach der – gesundheitsschädlichen – Nachtsitzung im Kanzleramt? Die Kassen kommen künftig nicht mehr für Komplikationen in Folge von Schönheitsoperationen, Piercings, Tätowierungen und Schönheitsoperationen auf. Das ist doch ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann. Da hab ich mich doch schon immer gefragt, wer das alles bezahlen soll. Kommt ein Mensch – Mann oder Frau – mit gepierctem Bauchnabel nach einem Unfall in die Rettungsstation, da wird künftig sofort der Computer angeworfen, um die Kosten auseinander zu halten. Gepierctes Bauchfell kostet extra. Sehr beruhigend.

Na, und alles andere müssen wir mal wieder teurer bezahlen, weil niemand die wirklichen Kosten durchschaubar machen will, geschweige denn mit Spareffekt daran drehen.

Als Verbraucherin fühle ich mich immer in einer verdrehten Welt, wenn mein Chipkärtchen für fast alles gut sein kann und dann wieder für gar nichts, wenn ich in der Apotheke stehe und zuzahlen muss – kräftig, das wird noch kräftiger werden. Wenn mein Arzt selber nicht weiß, was er an mir als Kundin verdient – es sei denn, ich bin aufgestiegen in die Sphäre der Privatpatienten, deren Kassen dann das Dreieinhalbfache für die gleiche Leistung löhnen dürfen. Ist medizinische Versorgung eigentlich eine Dienstleistung?

Ist Krankheit das zuverlässigste Geschäft? So ein chronisch Kranker ist doch viel wert für einen Arzt, ein Krankenhaus, den Apotheker und die Pharma-Industrie. Da gibt es längst  „Wertschöpfungsprognosen“ bezogen auf Krankheit, Alter und Progredienz pro Kopf eines Kranken für die Wirtschaftsankurbelung. Längst tummeln sich die Aktionäre und Betreibergesellschaften in Bereichen von Krankenhäusern und Altersheimen, die früher einmal ein Dienst an der Menschheit waren. Wo Not gelindert wurde und der Mensch als Mensch noch arbeiten, leben und sterben durfte. Heute sind wir ja so effizient und werfen so viel Gewinn ab, dass es sich keiner mehr leisten kann. Was tun?

Lieschen Müller denkt nach:

Die Politiker raffen es nicht wirklich, sie schachern. Vielleicht meinen sie es sogar gut, aber was rauskommt ist nicht gut – nicht gut genug. Sie denken in Ideologien statt in praktischen Erwägungen und daraus wird eine unverträgliche Mixtur. Hinter diesem Verwirrspiel verstecken sich die Interessen von Verbänden und Industrien, die darauf angewiesen sind, dass wir mitspielen. Sie kennen unsere tiefste Angst – was ist, wenn ich mal krank werde? Das macht uns alle bereit, viel zu hohe Preise zu zahlen.

Wie wäre es mit einem Blick in andere Zeiten und Kulturen? Es gehen Geschichten um von der Einstellung in der alten traditionellen chinesischen Gesellschaft, dass dort der Arzt bezahlt wurde, um die Familien gesund zu erhalten. Je gesünder seine Kunden waren, desto mehr Geld floss in seine Kasse. Wurde jemand krank, so war er unbalanciert, also aus dem Gleichgewicht geraten –, dann musste der Arzt kommen und umsonst arbeiten, seinen Fehler wieder gut machen. Man war sich der Zusammenhänge bewusst zwischen Körper, Geist und Seele. Körperhaltung und Atmung, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, die Beziehungen der Menschen untereinander und in der Gemeinschaft – alles wurde respektvoll beachtet. Leben in Gesundheit war ein hohes Gut und wurde dem begleitenden Arzt entsprechend „vergütet“.

Wie sieht das bei uns aus? Je kränker der Kunde, desto reicher wird der Arzt oder das Krankenhaus. Und der Kunde muss ein „Patient“ sein – patientia, lateinisch für Geduld. Bloß nicht den Arzt verärgern, bloß nicht das medizinische Personal zu viel fragen. Sie werden schon wissen, was für mich gut ist. Ich gebe mal meine Krankheit bei ihnen ab und auch meine Verantwortung. Ich behalte nur meine Angst und Unsicherheit. Ein gutes Geschäft für die Betreiber, die ja nur Gutes tun wollen, das lässt sich weitertreiben bis in die letzten Atemzüge, da kann man rauchen und zur Kur fahren, da kann man saufen und noch ein paar Organe austauschen lassen, da kann man fett werden und ein paar künstliche Gelenke einsetzen lassen, da muss man fast gar nicht mehr sterben. Das zahlt alles die Kasse!

Was ist krank in unserem Denken? Warum soll da etwas krank sein? Ist es etwa nicht krank, dass meine Krankheit und meine Altersschwäche für andere den höchsten Gewinn abwerfen? Und das als Normalität – ich denke nicht an den Notfall. Können wir alle nicht umdenken und umschwenken, statt auf unsere Politiker zu schimpfen? Wir haben die Politiker und das System, das wir verdienen. Wenn wir etwas Besseres haben wollen, dann müssen wir es selber entdecken, dann müssen wir umdenken und anders handeln. Dann müssen wir es machen wie die Bremer Stadtmusikanten, die mutig aus einer elenden krank machenden Situation auszogen in die Welt mit dem Spruch: „Lasst uns gehen, etwas Besseres als den Tod können wir überall finden.“ 



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