„Aufpassen, dass ADHS nicht zur Modediagnose verkommt“

Kinder brauchen klare Regeln mit positiven Anreizen – Lange Wartezeiten
Von 26. Februar 2010

Frankfurt/Main (apn) Sie können sich kaum konzentrieren und stehen ständig unter Strom: Rund 600.000 Kinder leiden in Deutschland an der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Vor dem Rückgriff auf Medikamente sollten Eltern möglichst eine Verhaltenstherapie versuchen. Doch die ist schwer zu bekommen.

Ob heutzutage mehr Kinder zappelig sind als früher, weiß Manfred Döpfner von der Uniklinik Köln nicht. Vorsichtig spricht der Kinder- und Jugendpsychotherapeut von einer „erheblichen gefühlten Zunahme von ADHS“. Zwar zeigt der 1845 von dem Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffmann verfasste „Zappelphilipp“, dass die Störung keine Zivilisationskrankheit ist. Aber zu einem Massenphänomen entwickelte sie sich erst in jüngster Zeit. „Dass die Diagnose häufiger gestellt wird, kann auch heißen, dass diese Kinder heute eher gefunden werden“, betont Döpfner. „Aber man muss aufpassen, dass ADHS nicht zur Modediagnose verkommt.“

Weil es vielerorts an Kinder- und Jugendpsychiatern mangelt, stammen die weitaus meisten Diagnosen von Allgemein- und Kinderärzten. Viele von ihnen haben weder das Wissen noch die Zeit für die oft aufwendige Untersuchung.

„Viele andere Probleme“

Dabei klärt der Arzt, ob die Kinder situationsübergreifend hyperaktiv, impulsiv und unkonzentriert sind – also nicht nur in der Familie, sondern auch in Schule und Freizeit. Zudem soll er organische Ursachen wie etwa Epilepsie ausschließen. Aber vor allem muss er sich vergewissern, dass die Unruhe nicht von seelischen Problemen wie Ängsten und Depressionen oder von Schlafstörungen stammt. „Die meisten Kinder haben auch viele andere Probleme“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Aribert Rothenberger vom Uniklinikum Göttingen. „Deshalb braucht man für die richtige diagnostische Zuordnung oft mehrere Stunden.“

Bei den meisten Kindern raten die Leitlinien zu Verhaltenstherapie, Schulintervention und vor allem zum Elterntraining. „ADHS ist eine Störung der Selbststeuerung“, erläutert Döpfner. „Diese Kinder brauchen eine erhöhte Außensteuerung mit klaren Regeln, die nicht auf Strafe, sondern auf positive Anreize setzen sollte. Deshalb sollten Eltern nicht mit Lob und Anerkennung sparen.“

Psychopharmaka wie Methylphenidat sollen dagegen nur in schweren Fällen zum Einsatz kommen – wenn der Verbleib in der Schule gefährdet ist, die Familie zu zerbrechen droht oder andere Therapien nicht fruchten. Kritiker bemängeln, die Arzneien würden zu lax verschrieben. Tatsächlich stieg die Zahl der Methylphenidat-Rezepte in Deutschland enorm – zwischen 1990 und 2008 von 300.000 auf 50 Millionen Tagesrationen. Mittlerweile zählen drei Präparate mit dem Wirkstoff zu den 20 meistverordneten Kindermedikamenten.

Döpfner schätzt, dass rund 40 Prozent der kleinen ADHS-Patienten Medikamente nehmen, meist Methylphenidat. Der Wirkstoff greift in den Dopamin-Haushalt des Gehirns ein und verringert bei drei von vier Kindern die Symptome. Florian Funke (Name auf Wunsch der Mutter geändert) drohte mit neun Jahren der Wechsel auf eine Kölner Förderschule. Damals stellte der Kinder- und Jugendpsychiater die Mutter vor die Wahl: „Ohne Medikamente wird Ihr Sohn keinen regulären Schulabschluss schaffen.“

Wirkstoff hat Nebenwirkungen

Schweren Herzens folgte Kerstin Funke (Name geändert) dem Rat. „Ich hatte damals viele Vorurteile“, sagt sie. Seitdem nimmt der Junge Methylphenidat, für die Dauer des Unterrichts. Inzwischen besucht der Zwölfjährige erfolgreich eine Realschule. „Er kann sich konzentrieren und den Lehrstoff im Unterricht aufnehmen“, sagt Funke. „Ohne Medikamente wären wir nicht so weit gekommen.“

Aber der Wirkstoff hat Nebenwirkungen. Florian nimmt er oft den Appetit. Setzt er die Arznei an den Wochenenden ab, hat er mehr Hunger. „Ohne das Mittel hätte der Junge wohl mehr Fleisch auf den Rippen“, sagt die Mutter.

Bei anderen Kindern stört das Medikament den Schlaf. Weil es auch den Blutdruck steigern und das Wachstum bremsen kann, sollen Ärzte jährlich prüfen, ob die Arznei noch nötig ist. Viele Heranwachsende können in der Pubertät darauf verzichten, doch jeder dritte Patient nimmt das Stimulans bis ins Erwachsenenalter.

Kritik an „Heilsversprechungen“

Auch eine medikamentöse Therapie sollte verhaltenstherapeutisch begleitet werden. Aber gerade dies ist problematisch. Es scheine „deutlich schwieriger, eine Verhaltenstherapie für das betroffene Kind zu erhalten, als ein Medikament zu verschreiben“, bemängelte jüngst der Sachverständigenrat Gesundheit. Therapieplätze seien oft nicht verfügbar oder mit langen Wartezeiten verbunden. Rothenberger bestätigt die Kritik: „Kinder müssen sehr lange auf Plätze für eine Verhaltenstherapie warten“, sagt er. „Da besteht Verbesserungsbedarf.“

Bei alternativen Therapien rät Döpfner zu Vorsicht: Zwar liefern kleine Studien ermutigende Resultate etwa zu Neurofeedback oder Bewegungstherapie. Aber noch sei offen, wie zuverlässig solche Optionen helfen, sagt der Experte und fügt hinzu: „Es gibt viele Heilsversprechungen.“ (AP)

 



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