Placebo und Nocebo: Die wundersame Kraft der Täuschung

Im klinischen Alltag tabu, in Medikamententests hoch im Rennen – Placebos. Sie können ganz ohne Wirkstoffe ein Leiden heilen, aber auch zu Nebenwirkungen führen.
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Pille ohne Wirkstoff, aber mit einer starken Wirkung.Foto: elwynn1130/iStock
Von 13. Mai 2024

Die moderne Medizin rühmt sich ihres evidenzbasierten Ansatzes. Wissenschaftliche Fakten und nicht Glauben und Hörensagen bestimmen, welche Behandlung Ärzte und Krankenhäuser auswählen.

Doch was ist, wenn unser Glaube an die Medizin eine signifikante therapeutische Wirkung zeigt? In diesem Zusammenhang kommt das Placebo ins Spiel.

Bühne frei für das Placebo

Ein Placebo wird im Allgemeinen als ein Scheinmedikament verstanden. Es kommt oft in der Form einer Zuckerpille zum Einsatz, die als ein echtes Medikament getarnt ist. Ein Placebo hat also keinen erkennbaren pharmakologischen Wert. Dennoch zeigen Studien, dass sich die Symptome von Patienten, die Placebos einnehmen, verbessern.

Dieser Effekt funktioniert so gut, dass Medikamentenversuche oft darauf aufbauen. So vergleichen Forscher bei der Bewertung neuer Arzneimittel routinemäßig eine Gruppe von Personen, die das eigentliche Medikament erhalten, mit einer anderen Gruppe, die ein Placebo erhält. Nur wenn das neue Medikament oder Verfahren den Placeboeffekt übertrifft, kann es als rechtmäßig wirksam angesehen werden.

Für viele hat die Vorstellung, dass Patienten durch die Kraft der Suggestion Linderung erfahren können, den Beigeschmack von Quacksalberei. Allerdings sind die Beweise für dieses Phänomen unbestreitbar. Das belegen die vielen Arzneimittelstudien, die Placebokontrollgruppen in ihren Versuchen verwenden. Auf diese Weise ist das Placebo die am gründlichsten getestete medizinische Maßnahme überhaupt. Doch nicht nur falsche Pillen zeigen Erfolge – auch Placebo-Operationen heilen erstaunlicherweise.

Howick: Placebokontrollierte Studien sind nicht immer die beste Wahl

Placebos sind also wirksam. Dennoch werden sie in der klinischen Praxis nicht eingesetzt, weil es als unethisch gilt, Patienten durch die Verabreichung eines falschen Medikaments zu täuschen. Aus diesem Grund sind Placebos momentan weitgehend nur bei Arzneimitteltests anzutreffen.

Doch diese vorherrschende Weisheit sei falsch, schreibt Jeremy Howick in seinem neuen Buch „The Power of Placebos“. „Placeboeffekte, die nicht immer eine Pille erfordern, sind nicht nur im Tagesgeschäft ethisch vertretbar, sondern auch in der klinischen Praxis. Das Gegenteil ist in klinischen Studien der Fall“, meinte Howick, Professor für empathische Gesundheitsfürsorge an der Universität von Leicester in Großbritannien.

Placebokontrollierte Studien sind der Goldstandard für Medikamententests. Doch sie seien nicht immer die beste Option, glaubt Howick. Ihm zufolge wissen Ärzte seit den 1990er-Jahren, dass Steroide bei etwa 20 Prozent der Menschen mit alkoholischer Lebererkrankung den Tod verhindern können. Als jedoch in den frühen 2000er-Jahren ein neues Medikament zur Behandlung von alkoholischen Lebererkrankungen erschien, verglichen Forscher es nicht mit Steroiden, sondern mit einem Placebo.

Laut Howick setzt eine Studie, die auf einem solchen Vergleich aufbaut, die Probanden in der Placebogruppe einem höheren Todesrisiko aus. Das sei nicht sinnvoll.

„Wenn man ein neues Auto kauft, vergleicht man es mit einem anderen Auto – Toyota gegen Ford. Warum der Unterschied bei Arzneimitteltests? Wir sollten das beste Medikament im Vergleich zu allen bekannten Alternativen testen, nicht im Vergleich zu einem Placebo“, meinte er.

Ein ehrliches Placebo

Was die klinische Praxis anbelangt, so gilt es für einen Arzt in der Regel als unethisch, Placebos zu verschreiben. Denn sie werden allgemein als eine Art Täuschung verstanden. Selbst wenn ein Patient von einem Placebo profitieren könnte, sei es nicht richtig, zu lügen.

Allerdings ist Lügen nicht notwendig, damit der Placeboeffekt zum Tragen kommt. Im Jahr 2016 erschien eine Studie von Ted Kaptchuk, dem Leiter des Programms für Placebostudien am Beth Israel Deaconess Medical Center in den USA und Professor für Medizin an der Harvard Medical School. Im Rahmen der Studie erhielten die Teilnehmer ein Medikamentenfläschchen mit der Aufschrift „Placebopillen“ und der Anweisung, zweimal täglich zwei davon zu nehmen.

Da sie wussten, dass sie in der Studie Placebos erhielten, äußerten die Probanden Misstrauen gegenüber der Scheinbehandlung. Aber diese „ehrlichen“ oder „aufrichtigen“ Placebos wirkten so gut, dass viele Probanden glaubten, sie müssten ein echtes Medikament erhalten haben. Mehrere Teilnehmer baten nach Abschluss der Studie um ein Rezept für Placebos.

Die Nebenwirkungen der Scheinmedikamente

Placebos haben also ein heilendes Potenzial. Allerdings können sie auch unerwünschte Nebenwirkungen haben – so seltsam es auch klingen mag. Forscher, die im Rahmen von Arzneimittelstudien Einwilligungserklärungen ausstellen, können eine Reihe von Symptomen anführen, die bei Patienten mit dem echten Medikament auftreten können. Eine solche informierte Zustimmung kann jedoch sogar dazu führen, dass auch in der Placebogruppe unerwünschte Ereignisse auftreten.

Diese dunkle Seite der Placebos ist als Noceboeffekt bekannt, der sich vom lateinischen Verb für „ich werde schaden“ ableitet. Das bedeutet, dass die Wirkung negativ ist. Da der Hippokratische Eid verlangt, dass Ärzte „keinen Schaden anrichten“, untersuchten nur wenige Forscher die Auswirkungen von Nocebos.

Allerdings deuten vorliegende Erkenntnisse darauf hin, dass der Noceboeffekt den Placeboeffekt sogar übertrifft. Laut Howick ist dies ein Teil unseres Überlebensmechanismus. „Wir sind darauf programmiert, gefährliche Dinge eher zu meiden, als nach Vergnügen zu suchen. Wenn man die Gefahr vermeidet, bleibt man am Leben“, meint er.

Der Noceboeffekt kann das Vertrauen des Patienten in Mediziner und die von ihnen angebotenen Behandlungen zerstören. Das bedeutet, dass Ärzte, selbst wenn sie in ihrer Praxis niemals Placebos verwenden, zumindest versuchen sollten, einen Noceboeffekt zu vermeiden.

Das ist leichter gesagt, als getan. Im Jahr 2016 erschien eine Übersichtsarbeit über Nocebostudien. Ihr zufolge „enthält die verbale und nonverbale Kommunikation von Ärzten zahlreiche unbeabsichtigte negative Suggestionen, die eine Noceboreaktion auslösen könnten“.

In diesem Sinne sollten sich Ärzte bewusst sein, dass ihr Verhalten am Krankenbett die Gesundheit ihrer Patienten beeinflussen kann, meinte Howick. Wenn sich Ärzte allerdings etwas mehr Zeit für jeden Patienten nehmen, könne es zu erfolgreicheren Behandlungen und besseren Ergebnissen führen, so der Professor für empathische Gesundheitsfürsorge.

Dieser Artikel ersetzt keine medizinische Beratung. Bei Gesundheitsfragen wenden Sie sich bitte an Ihren Arzt oder Apotheker.

Zuerst erschienen auf theepochtimes.com unter dem Titel „A Placebo’s Role in Modern Health Care“. (redaktionelle Bearbeitung as)



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