Ohne Pille kein Schlaf? Die chinesische Medizin hat andere Lösungen
„Schlaf ist die beste Medizin“, sagt der Volksmund. Doch Millionen Menschen kommen kaum zum Schlafen ohne Medizin. Schlafstörungen sind heute weit verbreitet. Dass der tägliche Griff zum Schlafmittel keine Dauerlösung ist, weiß die TCM-Praktikerin Jiao Ken aus eigener Erfahrung.
Seit 2012 behandelt sie in ihrer Zürcher Praxis Patienten mit unterschiedlichen Schlafproblemen nach der Tradition der chinesischen Medizin. Sie erinnert sich aber auch an eine Zeit, in der sie als Ärztin der Schulmedizin selbst so manche Zweifel an der Wirkung von Kräutern, Akupunktur und Massage hatte.
Frau Jiao, viele Menschen kommen zu Ihnen in die Praxis, weil sie Schlafprobleme haben. Wie behandeln Sie diese Volkskrankheit?
In der traditionellen chinesischen Medizin gibt es sehr unterschiedliche Behandlungsmethoden, von Akupunktur, Kräutertherapie, Schröpfen, Tuina-Massage bis zur Qigong-Meditation. Zunächst muss man sich aber die Ursache für die Schlafstörung genau anschauen.
Und wie finden Sie die Ursache heraus?
Ich führe eine ausführliche Anamnese durch. Die chinesische Diagnostik besteht aus vier großen Bereichen: An erster Stelle steht die Betrachtung der äußeren Merkmale. Dabei werden unter anderem Gesichtsfarbe, Augen, Ohren, Zunge sowie den Körpertypus des Patienten untersucht.
Weitere Informationen finde ich dann durch die Befragung heraus. Zum Beispiel frage ich den Patienten, wie gut er einschlafen kann, ob er viel träumt, wie er seine Schlafqualität einschätzt, wie sein Appetit ist, seit wann und wie häufig bestimmte begleitende Symptome auftreten. Wichtig sind auch Auskünfte über seine Arbeit, Ernährung, Vorerkrankungen sowie über seinen Lebensstil.
Eine weitere Säule in der Diagnostik ist das Tasten beziehungsweise Fühlen. Dabei stehen der Puls, Bauch und die Haut im Fokus.
Zusätzlich bekomme ich, wenn ich auf die Stimme und die Atmung höre und die verschiedenen Körpergerüche wahrnehme, wichtige Informationen über den Gesundheitszustand des Patienten. Aus all diesen gesammelten Informationen leite ich dann die Diagnose ab.
Könnten Sie ein paar konkrete Beispiele nennen, was Schlafstörungen auslösen kann?
Grob gesagt handelt es sich bei Schlafstörungen um eine Disharmonie zwischen der Yin- und Yang-Energie. Genauer betrachtet unterscheiden wir zwischen zwei Arten von Schlafstörungen: die akute und die chronische.
Eine Ursache für die akute Schlafstörung ist die sogenannte Leber-Qi-Stagnation. Das heißt, der Energiefluss ist in diesem Organ gestaut. Das kann zum Beispiel passieren, wenn Emotionen wie Ärger, Groll oder Frustration unterdrückt werden. Dieser lang anhaltende Stau erzeugt Hitze im Körper. Diese wandert nach oben zum Kopf und bewirkt, dass der Geist unruhig wird. So entstehen Schlafstörungen.
Auslöser für eine chronische Schlafstörung könnte zum Beispiel ein Energiemangel in der Milz sein. Dies kommt von vielen negativen Gedanken, Sorgen und unerreichten Wünschen, aber auch von einer schlechten Ernährung. Es gibt aber auch noch den Yin-Mangel, den Herz- und Gallenblasen-Qi-Mangel, die Schleim-Hitze und so weiter. Dies alles kann zu Schlafproblemen führen. Das war jetzt sehr vereinfacht zusammengefasst.
Neben wir an, Sie haben bei einem Patienten einen Milz-Energiemangel festgestellt. Was kann da helfen?
Wir stärken in dem Fall die Milzenergie zum Beispiel durch eine Akupunktur- oder Kräutertherapie. Auch eine Ernährungsberatung kann hier hilfreich sein. Es ist aber so, dass man es in der Praxis oft mit nicht nur einer Ursache zu tun hat, sondern gemischten Ursachen. Dann muss man herausfinden, was die Kernursache ist. Daraus leitet sich dann die Therapie ab.
Mit welchen Nebenwirkungen muss der Patient bei so einer TCM-Therapie rechnen?
TCM-Arzneimittel und Behandlungen sind in der Regel ohne Nebenwirkungen. Vorausgesetzt, man hat die richtige Diagnose gemacht. Wenn man falsche Kräuter verschreibt, kann das Gesundheitsproblem nicht gelöst werden, weil die Kräuter nicht wirken. Es ist daher sehr wichtig, die Anamnese korrekt durchzuführen.
Nahezu keine Nebenwirkungen, das klingt gut. Aber auf der anderen Seite werden Sie sicherlich schon häufig zu hören bekommen haben, dass Menschen die Wirksamkeit von TCM anzweifeln. Was sagen Sie diesen Menschen?
Ich gehörte früher selbst zu den Skeptikern von TCM. Damals hatte ich in China Schulmedizin studiert und arbeitete über zwölf Jahre lang als Ärztin in einem Krankenhaus. Als ich vor knapp zwanzig Jahren in die Schweiz zog, musste ich meinen Beruf aufgeben. Mein chinesisches Arztdiplom wurde hier nicht anerkannt. So arbeitete ich in einer TCM-Praxis, zunächst nur als Dolmetscherin.
Es war anfangs sehr schwierig für mich. Aber ich habe schnell gemerkt, wie gut die traditionelle chinesische Medizin wirkt und wie vielen Menschen dadurch geholfen wurde. TCM wirkt in vielen Fällen ausgezeichnet und ist eine sinnvolle Ergänzung zur Schulmedizin. Später begann ich selbst mit einer Ausbildung zur Diplom-Akupunkteurin. Und ich bin kein Einzelfall.
Wie meinen Sie das?
Ich habe eine Gynäkologin aus Peking kennengelernt. Sie ist damals auch komplett zur chinesischen Medizin gewechselt. Sie erzählte mir: In der Schulmedizin, im Bereich der Gynäkologie, ist es so, dass man am Ende oft vor zwei Optionen steht: entweder Operation oder Medikamente.
Wenn eine Patientin etwa unter Menstruationsschmerzen leidet, empfiehlt der Arzt oft Schmerzmittel oder Hormon-Pillen als Lösung. Das ist sehr unnatürlich. Es kann nicht gut sein, wenn man die normale Menstruation auf diese Weise stört oder stoppt.
In der chinesischen Medizin hat man viel mehr Behandlungsmöglichkeiten und man kann viel mehr erreichen.
Haben Sie hierfür ein konkretes Beispiel?
Ein Patient kam einmal mit Rückenschmerzen in unsere Praxis. Damals habe ich selbst noch nicht behandelt, sondern nur als Dolmetscherin gearbeitet. Der Patient selbst war Schulmediziner und eigentlich nicht überzeugt von TCM. Seine Freundin hatte ihn überredet. Er kam mit gebeugtem Rücken und Schmerzen in die Praxis. Nach der Akupunktur- und Tuina-Therapie wurden seine Schmerzen gelindert.
Wenn TCM so gut wirkt, wie Sie erzählen, warum gibt es bisher so wenige wissenschaftliche Beweise, die die Wirkung belegen?
Das heißt für mich nur, dass unsere Wissenschaft bislang nicht so weit entwickelt ist, dass sie die Wirkung von TCM beweisen kann.
Wenn jemand sich nun selbst davon überzeugen lassen und TCM einmal ausprobieren möchte, worauf sollte er achten?
Jeder TCM-Arzt hat seine Spezialgebiete, wo er viel Erfahrung hat. Das sollte man bei der Praxis-Wahl beachten. Es gibt auch viele Praktiker aus China. Sie sind sehr gut, aber häufig können sie leider kein Deutsch. In der Regel bieten sie einen Dolmetscher an. Man sollte sich hier erkundigen.
Kommen wir noch einmal zurück zu Ihrem Spezialgebiet, zur Schlafstörung. Am besten wäre doch, wenn man diese Probleme erst gar nicht entstehen lässt. Haben Sie Tipps, wie man dem vorbeugen kann?
Laut der chinesischen Organuhr ist es am besten, wenn man vor 23 Uhr ins Bett geht. In der Zeit zwischen 23:00 und 1:00 Uhr ist Schlaf besonders wertvoll für das Gallenblasen-Qi. Es wird dann optimal genährt, und gibt dem Körper Energie für den ganzen Tag.
Wichtig ist auch vor dem Schlafengehen möglichst keine Smartphones zu benutzen. Ich denke, dass das helle Licht von den Elektrogeräten zu „Yang“ gehört. In der Nacht brauchen wir „Yin“. Wenn zu viel Yang vorhanden ist, ist der Geist unruhig, was zu Schlafstörungen führen kann.
Weiterhin sollte man vor dem Schlafen nicht zu viel Wasser trinken und nicht zu viel essen. Das heißt konkret nach 20 Uhr möglichst nicht mehr essen. Dazu gibt es einen Spruch: Am Abend sollte man nur so viel essen, bis der Magen zu 70 Prozent gefüllt ist.
Und noch ein Geheimtipp: Vor dem Schlafengehen meditieren und nicht zu viel denken.
Frau Jiao, vielen Dank für das Gespräch.
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