Zur EM droht Bahnstillstand: Personal hat Angst um Leib und Leben

Zur Fußball-EM könnte der Verkehr auf deutschen Bahnstrecken stillstehen: Die Gewerkschaft EVG droht, die Arbeit niederzulegen. Diesmal geht es allerdings nicht um Tarifstreitigkeiten, sondern um die Angst vor immer mehr Gewalt.
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Das Symbolbild zeigt Albärt, das Maskottchen der UEFA-Fußball-EM 2024, neben einem ICE-Hochgeschwindigkeitszug.Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP via Getty Images
Von 4. Mai 2024

Gewalt und Beleidigungen in Eisenbahnen gehören offenbar immer mehr zum Alltag von Zugpersonal und Fahrgästen in Deutschland. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hält die Situation mittlerweile für so schlimm, dass die Bahnmitarbeiter während der Fußball-Europameisterschaft sogar die Arbeit verweigern könnten.

Die Betriebsräte hätten das Recht, ihre Zustimmung zu den Dienstplänen zurückzunehmen, falls ein erhöhtes Gefahrenpotenzial zu erwarten sei, erklärte die EVG-Sprecherin Anne Jacobs in einer Pressemitteilung. Um das Szenario stillstehender Züge im Juni und Juli 2024 zu verhindern, forderte die Gewerkschaft „ein EM-Sonderprogramm zum Thema Sicherheit“.

EVG will mehr Personal für mehr Sicherheit

Vom Arbeitgeber Bahn wünscht sich die EVG – angepasst an den EM-Spielplan – doppelt so viel Zugpersonal wie gewöhnlich und zusätzlich noch mehr Sicherheitskräfte. Die Bundespolizei solle zudem mehr Beamte an den Bahnhöfen einsetzen und auch in den Zügen selbst für mehr Sicherheit sorgen.

„Die Doppelbestreifung muss Standard werden“, brachte EVG-Vorstand Kristian Loroch seinen Standpunkt gegenüber dem „Tagesspiegel“ auf den Punkt. Sollte die Bahn den Forderungen nicht nachkommen, dann „werden wir dafür sorgen, dass die Züge nicht fahren“, so die Ansage des Gewerkschaftsvorstands. Immerhin hätten seine Kollegen die Möglichkeit, „kollektiv“ Überstunden abzubauen.

In den Niederlanden hatten Beschäftigte der Staatsbahn Nederlandse Spoorwegen (NS) am 18. April ein Exempel statuiert: Nach Angaben des „Tagesspiegel“ ließen sie die Räder für drei Minuten stillstehen. Es habe sich um ein Zeichen der Solidarität mit einer Kollegin gehandelt, die von Jugendlichen die Treppe eines Doppelstockzuges hinuntergestoßen worden war.

Auch Ralf Damde, der Gesamtbetriebsratschef der Deutsche-Bahn-Tochter DB Regio, forderte nach Informationen des „Tagesspiegel“ für den Zeitraum des internationalen Fußballfests „Personalplanung nach Gefahrenlage durch rivalisierende Fanmassen in Bussen und Bahnen“. Konkret: „Doppelbesetzung und ausreichend Sicherheitspersonal für die Monate Juni und Juli 2024“.

Bahn sagt Bodycams für Personal zu

Eine Bahnsprecherin habe bereits zugesagt, mehr Bodycams an die Zugbegleiter zu verteilen, also kleine Videokameras, die beispielsweise am Revers einer Uniform getragen werden können. Das könne nicht nur helfen, etwaige Aggressionen der Zugfahrgäste zu dämpfen, sondern bringe die Bahnmitarbeiter auch in den Besitz von Beweismaterial.

Hintergrund ist eine anonyme Online-Umfrage unter Bahnmitarbeitern mit Kundenkontakt, die die EVG durchgeführt hatte. Befragt wurden nach eigenen Angaben nicht nur die Zugbegleiter und Lokführer, sondern auch „das Personal im Bus, die Service-Beschäftigten auf den Bahnhöfen, am Telefon sowie das Sicherheitspersonal“. Rund 4.000 Kollegen hätten Angaben zu ihren Erfahrungen gemacht.

Vier von fünf Bahnbediensteten mit einschlägigen Erfahrungen

Demnach hätten mit 82 Prozent mehr als vier von fünf Bahnmitarbeitern bereits Anfeindungen oder Übergriffe erlebt – „die meisten davon in den vergangenen 12 Monaten“, wie es in der EVG-Pressemitteilung hieß. Bei fast zwei Dritteln (63 Prozent) habe sich „das Sicherheitsempfinden in den letzten 5 Jahren verschlechtert“. Inzwischen verspüre immerhin ein Drittel der Beschäftigten während der Arbeit ein andauerndes Unsicherheitsgefühl.

Nach Angaben von EVG-Chef Loroch seien die Aggressionen insbesondere während der Corona-Zeit hochgekocht, so der „Tagesspiegel“. Häufig sei der Streit um die Maskenpflicht Auslöser gewesen. Doch auch nach deren Abschaffung habe sich die Situation nicht beruhigt. Loroch sei überzeugt: „In der Gesellschaft verschieben sich die Grenzen. Ganze Gruppen benehmen sich zunehmend selbstherrlich.“

Spucken besonders „beliebt“

Was die körperlichen Attacken angehe, sei das Bespucken in der Umfrage mit 43 Prozent am häufigsten angegeben worden. Beinahe ebenso oft seien Bahnbedienstete mit Gegenständen beworfen (41 Prozent) oder geschubst oder getreten worden (40 Prozent). Mehr als jeder dritte Bahnbedienstete (35 Prozent) sei bereits festgehalten worden. Häufig sei Alkoholgenuss unter den Aggressoren im Spiel gewesen.

Nach Angaben von Torsten Uerz vom EVG-Expert:innenkreis (EK) hatte es an Serviceschaltern bereits Fälle gegeben, bei denen „dickes Sicherheitsglas“ aus der Corona-Zeit zerschlagen worden sei.

81 Prozent mit Bedrohungserfahrungen

Bedrohungen aller Art hätten bereits fast doppelt so viele Betroffene über sich ergehen lassen müssen, berichtet die Gewerkschaft: „Beschimpfungen“ hätten 81 Prozent der Bahnmitarbeiter mindestens einmal erlebt, 38 Prozent sogar mehrfach in einem Monat. „Verbale Bedrohungen“ kannten drei Viertel (74 Prozent) der Befragten, 15 Prozent seien öfter als einmal im Monat Ziel einer solchen Äußerung geworden. Manche Bahnbedienstete würden auch ungefragt fotografiert und in sozialen Netzwerken bloßgestellt, hieß es vonseiten der EVG.

Körperlich bedroht worden seien bereits 61 Prozent der befragten Bahnmitarbeiter. Mit einer sexuellen Belästigung hätten es fast drei von zehn schon zu tun bekommen – die meisten Opfer dieser Art Drohung seien Frauen gewesen. Je länger die Befragten bereits bei der Bahn arbeiteten, desto mehr sei ihr Sicherheitsgefühl gewichen.

Nach offiziellen Zahlen der Deutschen Bahn wurden laut „Tagesspiegel“ allein 2023 insgesamt 3.144 Übergriffe auf ihre Mitarbeiter registriert. Das Statistische Bundesamt hatte 2022 beinahe ebenso viele (3.138 Fälle) erfasst. Vor zehn Jahren hatte es weniger als halb so viele Registrierungen (1.500) gegeben. Zwischen 2015 und 2018 stieg die Zahl deutlich bis auf gut 2.600 Fälle an und verharrte bis 2021 auf diesem Niveau.

Nach Angaben der „Bild“ bestätigte Thomas Filip, der Bundesvorstand der EVG, dass es immer mehr „Zwischenfälle“ gebe. Dabei würden „etwa 70 Prozent“ der Fälle gar nicht mehr gemeldet, weil die Bahnbediensteten „zur Deeskalation“ beitragen wollten. Filip stellte ähnlich wie Loroch fest: „Der Respekt ist verloren gegangen.“

Katastrophale Zustände in Südthüringen

Bereits im März 2024 hatte ein offener Brief des Betriebsrats der Süd-Thüringen-Bahn GmbH (STB) für Aufsehen gesorgt. Wie die „Bild“ bereits vor einer Woche berichtet hatte, war es speziell auf der Strecke Erfurt – Arnstadt – Suhl – Meiningen in den Abend- und Nachtstunden immer wieder zu Beleidigungen, Bedrohungen, Exhibitionismus, Schlägen und Tritten gegenüber dem Zugpersonal gekommen. Auch Fahrgäste seien zuweilen attackiert worden. Manche Randalierer hätten das Personal am Bahnhof derart bedrängt, dass die Opfer ihr Heil in einer Flucht quer über die Gleisanlagen gesucht hätten. Als Verursacher der „Gewaltexzesse“ hatte der STB-Betriebsrat vorwiegend Bewohner des Flüchtlingsheims in Suhl genannt.

Karsten Täschner, der Sprecher der Bundespolizei, habe allerdings „vor solch subjektiven Wahrnehmungen“ gewarnt, wie die „Bild“ schrieb: „Die Umstände werden teils emotionalisiert“. Übergriffe im Bahnverkehr gebe es deutschlandweit. Täschner habe auf die höhere Zahl an Fahrgästen verwiesen, die durch das Deutschlandticket zu verzeichnen sei.

Dennoch hatte der Brandbrief des Betriebsrats eine Reaktion vonseiten der Politik hervorgerufen: Nach „Bild“-Informationen fand Ende April ein „Sicherheitsgipfel“ mit Vertretern der STB, der Bundespolizei und des Thüringer Verkehrsministeriums statt. An dessen Ende habe der Beschluss gestanden, der STB und der DB Regio mehr Geld aus Landesmitteln zur Verfügung zu stellen. Über die Summe sei nichts bekannt. Jedenfalls sollten davon Sicherheitsvorkehrungen bezahlt werden.

Die STB beschäftige bereits seit Januar 2024 einen „externen Sicherheitsdienst“ auf der Suhler Strecke, die Bundespolizei unterstütze die Bahnmitarbeiter seit November 2023 auch in Alltagskleidung.



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