„Zeitgemäßes Lernen“ oder „Körperverletzung“? Debatte um VR-Brillen in Schulen entfacht

Was das Bildungsministerium in Nordrhein-Westfalen als innovatives Lernen vorantreibt, bezeichnet der bekannte Neurowissenschaftler Prof. Dr. Manfred Spitzer als „einen Skandal von erster Güte“. Er warnt ausdrücklich vor dem Einsatz von sogenannten Virtual-Reality-Brillen im Unterricht.
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Nordrhein-Westfalen schiebt den Einsatz von VR-Brillen im Unterricht an. (Symbolbild)Foto: Nimito/iStock
Von 25. August 2024

Bis Ende 2024 will das Schulministerium in Nordrhein-Westfalen den Schulen im Land im Rahmen eines Pilotprojekts insgesamt rund 3.000 Virtual-Reality-Brillen (VR) zur Verfügung stellen, mit denen man in virtuelle Welten eintauchen kann. Doch es gibt auch Kritik für das fünf Millionen Euro teure Projekt, das „zeitgemäßes und zukunftsorientiertes“ Lernen verspricht.

Der renommierte Neurowissenschaftler Prof. Dr. Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III am Universitätsklinikum Ulm, spricht von Steuerverschwendung und sogar „Körperverletzung“. Er ist einer der Wissenschaftler, die ein Aus der Digitalisierung an Schulen und Kitas fordern.

Erprobung im Fünf-Jahres-Projekt

Ob Exkursionen an den Rand eines Vulkans oder eine Reise in die Stadt der Zukunft, es gibt viele „innovative Möglichkeiten“ für einen digital gestützten Unterricht durch den Einsatz von VR-Brillen, heißt es vom Schulministerium Nordrhein-Westfalen in einer Pressemitteilung vom 21. August.

In den nächsten fünf Jahren will das Ministerium den Zentren für die schulpraktische Lehrerausbildung sowie Schulen insgesamt rund 3.000 solcher Brillen zur Verfügung stellen. „In den nächsten fünf Jahren soll damit erprobt werden, welchen Beitrag die VR-Technologie für ein zeitgemäßes und zukunftsorientiertes Lehren und Lernen in der digitalen Welt leisten kann“, so das Ministerium.

Laut Schulministerin Dorothee Feller sollen Kinder und Jugendliche von „modernen Lernmethoden profitieren“ und damit gut auf die Zukunft vorbereitet werden. Dank neuester VR-Technologie soll ein Lernumfeld gestaltet werden, „das Praxisnähe ermöglicht, spannend ist und mit dem wir Schülerinnen und Schüler motivieren und begeistern wollen“.

Auch der Einsatz von VR-gestützten Lehr-Lernmaterialen, die vom Schulministerium gemeinsam mit der Ruhr-Universität Bochum entwickelt wurden, sollen zum Einsatz kommen. Kurz gesagt, soll mit VR laut Ministerium „die ganze Welt ins Klassenzimmer“ geholt und der Unterricht viel anschaulicher gestaltet werden.

Bis Ende des Jahres werden Ausrüstung und Technik verteilt, damit es allen Lehrkräften in den beteiligten Kommunen möglich ist, die Geräte kostenlos für den Einsatz im Schulunterricht zu nutzen. Auch an allen 33 Standorten der Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung des Landes soll die Technik verfügbar sein.

Prof. Spitzer warnt vor Negativeffekt

Der Neurowissenschaftler und Psychiater Prof. Manfred Spitzer von der Universität Ulm kann den neuen Lernmethoden nichts abgewinnen. „Das ist grober Unfug gepaart mit Körperverletzung“, erklärte er gegenüber Epoch Times. „Nach allem, was wir wissen, wird das dem Lernen schaden und der Gesundheit der Kinder auch.“

Er kritisierte zudem, dass es keine Evidenz für den Einsatz dieser Lerntechnologien gebe – sonst würde man nicht von „Erprobung“ sprechen.

Hier werden Steuergelder zum Schaden von Kindern verschleudert. Eigentlich ein Skandal von erster Güte“, so Spitzer.

Der Professor gehört zu über 40 führenden Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachbereiche, die zusammen mit Kinder- und Jugendärzten im November 2023 von den Kultusministern der Länder ein Moratorium der Digitalisierung an Schulen und vorschulischen Bildungseinrichtungen forderten.

„Es müssen zuerst die Folgen der digitalen Technologien abschätzbar sein, bevor weitere Versuche an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen mit ungewissem Ausgang vorgenommen werden. Diese haben nur ein Leben, nur eine Bildungsbiografie und wir dürfen damit nicht sorglos umgehen“, heißt es in dem Papier, über das Epoch Times berichtete.

Erhöhte Bildschirmzeit beeinträchtigt Entwicklung

Bereits im Oktober 2022 hatte Spitzer ein 189-seitiges Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (KMK) bemängelt. In diesem wurde auch der Einsatz von VR-Brillen im Unterricht vorgeschlagen – etwa für dreidimensionale Rekonstruktionen historischer Orte im Geschichtsunterricht oder eine Darstellung der Folgen des Klimawandels in der Arktis.

Der Neurowissenschaftler wies in seiner 16-seitigen Expertise darauf hin, dass aus internationaler, evidenzbasierter und medizinischer Fachliteratur hervorgeht, dass sich die Bildschirmzeit kausal negativ auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirkt.

Demnach lag die Bildschirmzeit einer großen Mehrheit von Kindern, darunter auch Kleinkinder, höher als die von der WHO und vielen pädiatrischen Gesellschaften herausgegebenen Richtlinien.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gab (Stand April 2023) folgende Empfehlung für Bildschirmzeiten heraus:

0 bis 3 Jahre – am besten gar nicht
3 bis 5 Jahre – maximal 30 Minuten
6 bis 8 Jahre – maximal 45 Minuten
9 bis 11 Jahre – maximal 60 Minuten

„Je weniger Bildschirmzeit, desto besser!“, sei die Devise.

Der Konsum von Bildschirmmedien im Vorschulalter beeinträchtigt die Entwicklung des Vorstellungsvermögens, also des willentlich gesteuerten bildhaften Denkens, erklärt Spitzer mit Verweis auf die Studienlage. Auf lange Sicht werden dadurch auch Kreativität und eigenständige Willensbildung beeinträchtigt.

Keine Sprachentwicklung ohne Dialog

Spitzer kritisierte weiter, dass in dem für die KMK erstellten Gutachten behauptet wird, dass die Zeit vor Bildschirmen für die kindliche Entwicklung und insbesondere die Sprachentwicklung förderlich sei.

„Schon lange ist anhand sehr sorgfältig durchgeführter international publizierter Studien nachgewiesen, dass das Gegenteil der Fall ist“, so der Neurowissenschaftler. Für die Sprachentwicklung seien Zuhören, Artikulieren und gemeinsames Handeln im Dialog notwendig.

„Selbst die Beherrschung der Sprachlaute, die schon vor dem ersten Lebensjahr erfolgt, erfordert Lernen in sozialen Kontexten und nicht über Lautsprecher“, so Spitzer.

Medienkonsum beeinflusst Gesundheit

Bewegungsmangel, Haltungsschäden, Übergewicht, Bluthochdruck, Kurzsichtigkeit, Schlafstörungen und erste Anzeichen von Diabetes seien weitere Folgen des Konsums digitaler Medien.

Wie dramatisch der technologische Fortschritt die Volksgesundheit beeinflussen könne, lasse sich am Beispiel von Südkorea und China sehen. 88 Prozent der koreanischen Gesamtbevölkerung und 100 Prozent in der Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen besaßen laut einer im Jahr 2016 veröffentlichten Studie ein Smartphone. Dieses Land wies die weltweit höchste Rate an Kurzsichtigkeit mit über 90 Prozent bei den Zehn- bis 19-Jährigen auf.

Bedenklich sei diese Entwicklung auch deshalb, weil Kurzsichtigkeit erhebliche Kosten für das Gesundheitssystem verursacht, so Spitzer.

Zu diesen körperlichen Erscheinungen kommen laut Spitzer noch seelische Symptome wie Aufmerksamkeitsdefizit, Ängste, Depressionen mit Selbstverletzung und Suizidgedanken, Stress, verschiedene Arten von Süchten (Computer, Internet, Spiele, Smartphone, Alkohol und Tabak) hinzu.

Durch übermäßigen Gebrauch der Bildschirmmedien würden auch Lernerfolg, Willensbildung, Emotionskontrolle, Lebenszufriedenheit und Empathiefähigkeit gegenüber Eltern und Freunden beeinträchtigt.

„Dies ist in gesellschaftlicher Hinsicht gleichbedeutend mit einer Schwächung der Grundfesten unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens: Solidarität, Kritikfähigkeit und eigenständige Willensbildung“, warnt Spitzer.



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