Die traditionelle Linke und Rechte in der europäischen Politik ist verschwunden – Legutko

Der polnische Professor, Philosoph und Politiker Ryszard Legutko erläutert im Interview mit Jan Jekielek unter anderem den Begriff „Zwang zur Freiheit“. Für ihn ist dies ein Konzept, das auf Jean-Jacques Rousseau zurückgeht, in dem die Gesellschaft durch einen gemeinsamen Willen und gemeinsame Ziele geeint werden soll. Doch was ist mit denen, die andere Ziele verfolgen?
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Ryszard Legutko zu Gast bei American Thought Leaders mit Jan Jekielek.Foto: Epoch Times
Von 16. August 2024

Ryszard Legutko kämpfte als Redakteur im Untergrund der Solidarność-Bewegung in Polen für die Freiheit. Doch nachdem die Demokratie in Polen wiederhergestellt war, begann er etwas zu beobachten, mit dem er nicht gerechnet hätte.

Der Professor, Philosoph und seit 2005 auch Politiker erläutert seine Erkenntnisse in seinem Buch „The Demon in Democracy: Totalitarian Temptations in Free Societies“ (etwa: Der Dämon in Demokratien: Wie freie Gesellschaften totalitären Versuchungen erliegen).

Seit 2009 gehört er dem Europäischen Parlament an, nachdem er zuvor kurzzeitig Bildungsminister und anschließend Staatssekretär in der Kanzlei des Präsidenten der Republik Polen war (vergleichbar mit dem Bundespräsidialamt).

Lesen Sie hier das gekürzte Interview.

Ihr Buch „The Demon in Democracy” enthält einige verblüffende Beobachtungen. Sie stellen die liberale Demokratie infrage, was schockierend ist. Ist sie nicht das beste System, das wir haben?

Nicht unbedingt. Das Buch hat mehrere Ebenen, aber mein Hauptargument ist, dass das politische System in den USA, Europa, Neuseeland, Australien und Kanada, bekannt als liberale Demokratie, einige despotische Tendenzen mit kommunistischen Regimen teilt.

Die Terminologie sollte uns nicht täuschen. Nur weil etwas demokratisch heißt, bedeutet das noch lange nicht, dass es wirklich eine Herrschaft des Volkes ist. Wir leben in einer Zeit, in der die Manipulation der Sprache weit verbreitet ist. Wir sollten uns auf die Realität hinter den Worten konzentrieren.

Sie waren Herausgeber von „Arca“, einer bekannten Untergrundzeitschrift, und haben das Ende des Kommunismus im Jahr 1989 miterlebt. Sie erwähnten, dass Sie Ihr Buch im Kommunismus nicht hätten schreiben können. Es scheint, dass Sie die liberale Demokratie in gewisser Weise schätzen.

Ich sage nicht, dass diese beiden Systeme identisch sind. Das wäre grotesk. Aber es gibt Tendenzen in der liberalen Demokratie, die mich an das erinnern, was unter dem kommunistischen Regime geschah. Das beunruhigt mich und ist erstaunlich. Wir sollten diese Tendenzen frühestmöglich erkennen.

Wenn wir weiterhin glauben, dass die liberale Demokratie die bestmögliche Welt ist, und die Realitäten ignorieren, könnte es zu spät sein, etwas zu ändern.

Sie haben beobachtet, dass wir nach 1989 die Verhandlungen am Runden Tisch hatten und dann die Demokratie entstand. Einige Menschen, die explizit antikommunistisch waren, wie von Solidarność Walcząca oder ähnlichen Gruppen, konnten sich nur schwer anpassen, während ehemalige Kommunisten nahtlos zu Sozialdemokraten wurden und innerhalb des Systems erfolgreich waren. Das war für Sie unerwartet.

Was mich überraschte, als ich im Jahr 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments wurde: Wie sich ehemalige Kommunisten und Apparatschiks an das System anpassten und als vorbildliche liberale Demokraten akzeptiert wurden. Das war ein Kontrast zu den Schwierigkeiten, mit denen diejenigen konfrontiert waren, die ausdrücklich antikommunistisch waren.

Leute wie ich galten als Störenfriede. Wir waren Leute, die wegen unserer unkonventionellen Vorstellungen von Familie, Tradition und europäischer politischer Ideologie eigentlich nicht dort sein sollten. Die EU stand von Anfang an unter der Kontrolle der liberalen Linken.

Diese Einparteienherrschaft hat eine Situation geschaffen, in der Menschen wie ich, die andere Überzeugungen vertreten, als gefährlich angesehen und dann vom System isoliert werden. Auch wenn wir nicht inhaftiert oder verhaftet werden, widerspricht diese Ausgrenzung den Grundsätzen eines modernen demokratischen Staates, in dem die Stimme eines jeden gehört werden sollte.

In den letzten Jahrzehnten ist die traditionelle Linke und Rechte aus der europäischen Politik verschwunden. Früher konkurrierten diese beiden Richtungen miteinander. Nun hat sich die politische Landschaft radikal nach links verschoben.

Die Rechte ist kein legitimer Teil mehr des politischen Lebens und die Unterschiede zwischen der heutigen Rechten und Linken sind vernachlässigbar. Sind zum Beispiel die Torys und Labour in Großbritannien wirklich so verschieden? Die Torys sind heute eigentlich eine linke Partei, zumindest sind es ihre Führer.

Die Christdemokraten in Deutschland sind nur dem Namen nach Christdemokraten. Dieser Mainstream, der in Wirklichkeit die linke Agenda vertritt, wird als die einzig legitime und akzeptable Politik angesehen. Diejenigen, die sich nicht anpassen, werden isoliert.

Im Kommunismus wird alles politisiert. In der liberalen Demokratie stimmen wir über alles ab, aber wir politisieren auch alles.

Ja, das ist einer meiner Punkte. Wir sind dabei, alles zu politisieren. Ursprünglich hätte dieses System viele unpolitische Bereiche beibehalten und bewahren sollen.

Lasst die Menschen einfach tun, was sie wollen. Es gibt bestimmte Bereiche des Lebens, die vor politischer Einmischung geschützt werden sollten. Aber das ist nicht der Fall, aus Gründen, auf die ich nicht eingehen werde.

Unter den Kommunisten musste alles kommunistisch sein. Es war nicht nur die Familie, es war die kommunistische Familie, die kommunistische Moral, die kommunistische Kunst. Jetzt muss alles liberal oder demokratisch oder liberal-demokratisch sein.

Es gibt jedoch viele Institutionen, Gemeinschaften oder menschliche Aktivitäten, die weder liberal noch demokratisch sein können. Die Kunst oder die Familie sind nicht demokratisch. Sie so zu nennen, ist ein Schritt zur Zerstörung der Familie.

Schulen und Universitäten sind von Natur aus hierarchisch, im ursprünglichen Sinne aristokratisch, was auf Griechisch „die Besten“ bedeutet. Natürlich geht es nicht um erbliche Aristokratie, sondern um aristokratische Einrichtungen, in denen es Lehrer gibt und Schüler, die versuchen, zu folgen und zu lernen.

All diese Dinge sind für das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft notwendig. Wir leben in einer Gesellschaft, die zunehmend politisiert und ideologisiert ist. Politische Ideologie ist überall zu finden.

Selbst beim Theaterbesuch ist man der Woke-Ideologie und der kritischen Rassentheorie ausgesetzt. An der Universität wird man mit der gleichen politischen Ideologie in der Literatur konfrontiert. Alles wird mehr und mehr von Ideologie beeinflusst.

Es ist äußerst gefährlich, ständig mit denselben Ideen gefüttert zu werden, denn dadurch wird die Fähigkeit zum kritischen Denken eingeschränkt. Folglich bekommt man Probleme, wenn man nicht einverstanden ist oder von den ideologischen Richtlinien abweicht.

Man kann seinen Job verlieren oder gemaßregelt werden. In einigen Ländern kann man aufgrund einer abweichenden Meinung verhaftet werden.

Oder man wird misstrauisch beäugt, anstatt als normales Mitglied der Gesellschaft angesehen zu werden.

Hätte mir jemand vor zehn oder 15 Jahren gesagt, dass man ein liberales demokratisches System haben kann, in dem man wegen der Verwendung des falschen Personalpronomens im Gefängnis landen kann, hätte ich ihn für verrückt gehalten.

Aber was einst unmöglich schien, ist jetzt Realität geworden. Man kann für das sogenannte Misgendering ins Gefängnis kommen, was einfach unerhört ist. Die Freiheit, die wir haben, wird immer mehr eingeschränkt und das Rechtssystem immer repressiver.

Diese Einschränkungen finden schließlich ihren Weg in die Gesetze. Man wird nicht nur gesellschaftlich geächtet und verliert Freunde, sondern ist auch Repressionen ausgesetzt. Das ist wirklich schockierend.

Was hat es mit der Umerziehung auf sich?

Wer heutzutage falsche oder rebellische Ideen hat, kann sogar von seinen Vorgesetzten eine Therapie verordnet bekommen. Die Ideen, die Sie äußern, werden nicht nur als falsch oder umstritten angesehen, sondern es wird davon ausgegangen, dass etwas von Natur aus mit Ihnen nicht stimmt.

Sie brauchen also eine Therapie, um ein anderer Mensch zu werden. In der Sowjetunion schickte man Menschen wie uns zur Behandlung in psychiatrische Kliniken. Man war krank und musste zu einem Psychiater, um ein normaler Mensch zu werden und sich anzupassen.

Heute wird das als normal angesehen. Ein weiteres Beispiel ist die „Bewusstseinsbildung“, ein Begriff aus der kommunistischen Zeit. Damals war man sich der Vorteile des Kommunismus nicht bewusst. Um sich zu bilden, musste man verschiedene Kurse oder Lektionen besuchen.

Die Lehrer versuchten, dir die Augen zu öffnen und dir zu zeigen, wie glücklich du dich schätzen konntest, im Kommunismus zu leben, und welche wertvolle Botschaft die kommunistische Ideologie vermittelte.

Es wird argumentiert, dass die Meinungsfreiheit andere Rechte beeinträchtigt.

Sie kann die Macht einer Gruppe einschränken. Die Erklärung der Menschenrechte sollte uns Sicherheit geben und unsere Freiheiten garantieren. Aber das hat nicht funktioniert. Wir haben immer weniger Freiheit.

Nehmen wir die Bewegung für das Recht auf Leben; Abtreibungen sind jetzt überall verbreitet. Das Recht auf Leben gibt es in den meisten Ländern nicht. Dieser Ansatz hat sich nicht bewährt, weil das Konzept selbst falsch konzipiert und nicht vertretbar ist. Er geht von falschen Annahmen über den Menschen aus. Wir sind mehr als nur Wesen mit Rechten.

Ihr Buch „The Demon in Democracy” ist ein unglaublich wichtiger Beitrag zu diesem Thema. Jeder würde zustimmen, dass unser demokratisches System derzeit nicht gut funktioniert. Ich empfehle jedem, Ihr Buch zu lesen. Haben Sie noch ein paar abschließende Worte?

Eine Möglichkeit, etwas zu verändern, ist die Politik, denn Politik ist heute überall. In der Politik geht es darum, Gleichgewicht und Ausgewogenheit zu finden. Wir müssen eine politische Partei haben, die für Kontinuität steht.

Es ist wichtig, eine tragfähige Alternative zum dominanten Mainstream zu haben. Jeden, der von diesem Mainstream abweicht, als Nazi, Idioten oder behandlungsbedürftigen Verrückten abzustempeln, ist unfair und unproduktiv.

Eine funktionierende demokratische Politik braucht eine ausgewogene Balance und eine Wahl. Wir sollten frei entscheiden können, ob wir radikalere Veränderungen anstreben oder nur die Kontinuität wahren und die notwendigen Anpassungen vornehmen wollen.

Dies ist ein natürlicher Teil des politischen Prozesses. Wenn aber die extremen Radikalen die alleinige Macht haben und weiterhin rücksichtslos mit der menschlichen Natur experimentieren, landen wir auf einem gefährlichen Weg. Das System wird mit der Zeit immer despotischer. Das muss verhindert werden.

Deshalb brauchen wir mehrere Wahlmöglichkeiten, ein politisches und ideologisches Gleichgewicht. Das macht eine gesunde politische Struktur aus. Ohne sie wird sich das System verschlechtern, und wir werden vor großen Herausforderungen stehen.

Professor Ryszard Legutko, es war mir eine Freude, Sie hier zu Gast zu haben.

Das Interview führte Jan Jekielek.



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