Wenn Gewaltprävention zur Chefsache wird – Klinikpersonal lernt Selbstverteidigung

Trotz ihres Einsatzes für die Gesundheit anderer Menschen geraten Ärzte und Pflegekräfte immer wieder in Bedrängnis. Nicht selten kommt es zu gewalttätigen Übergriffen von Patienten und Angehörigen.
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Immer mehr Kliniken setzen auf körperliches Deeskalationstraining. (Symbolbild)Foto: JackF/iStock
Von 14. Oktober 2024

Verbale Angriffe, Bespucken, körperliche Tätlichkeiten. Das Klima in Kliniken ist deutlicher rauer geworden. Übergriffe auf Mitarbeiter durch Patienten oder deren Angehörige sind keine Seltenheit. Aus diesem Grund setzen viele Krankenhäuser auf Prävention und investieren in Deeskalationstraining.

Im Klinikum Leverkusen schult Chefarzt Marc Busche die Beschäftigten persönlich. Seit über 30 Jahren ist der Chirurg im Kampfsport aktiv. „Ich warte schon seit 30 Minuten auf mein Rezept!“, brüllt er in der Rolle eines aufgebrachten Patienten seine Kollegin an, die eine Pflegekraft spielt. Als sie ihn auffordert, sich hinzusetzen, holt er zum Schlag aus.

Anhand dieses Szenarios zeigt Busche die Wirkung einer effektiven Abwehr. Während sie beim ersten Angriff ins Taumeln gerät, schützt sie sich vor dem zweiten Schlag mit erhobenem Ellenbogen, an den sie eng ihren Kopf presst. Im Anschluss stößt sie ihren Peiniger kräftig weg.

Ablenkungen mit Arztkitteln und Münzen

In dem Training bringt der Kampfsportler den Mitarbeitern bei, Abstand zu halten, wie man sicher steht und sich schützt. Sie lernen, sich aus Würgegriffen zu befreien und den Angreifer abzulenken, indem sie alltägliche Gegenstände wie einen Arztkittel oder Münzen auf ihn werfen.

Sicherheitsdienste seien an Kliniken zwar sinnvoll, so der Chefarzt, wenn ein Patient aber plötzlich ausraste, dauere es zu lange, bis sie eintreffen. Weglaufen sei jedoch die empfohlene Strategie. Laut Busche ist es nahezu unmöglich, einen bewaffneten Angreifer zu entwaffnen.

Seit rund zwei Jahren bietet das Klinikum Leverkusen Gewaltschutztraining an. An dem zunächst mit Beschäftigten in der Notaufnahme begonnenen Selbstverteidigungskurs können inzwischen auch alle anderen Mitarbeiter teilnehmen.

Pflegerin: „Wir müssen uns schützen“

Auch in anderen Kliniken lernen Beschäftigte, wie sie mit aggressiven Patienten und deren Angehörigen umgehen, wenn beruhigende Worte nicht weiterhelfen. In den vergangenen Jahren seien immer mehr gewaltbereite aggressive Patienten und Angehörige in den Krankenhäusern, schildert die Berliner Pflegerin Jessica Künstler gegenüber dem rbb.

„Wir wollen niemandem wehtun, aber wir müssen uns schützen“, sagt sie.

Wie schnell es zu einem Angriff kommen kann, berichtet Mathias Schmid, Leiter der Zentralen Notaufnahme der DRK-Kliniken Köpenick. Ein Patient sei von seiner Trage gesprungen und „von einer Sekunde auf die andere“ auf die Pfleger losgegangen.

Körperliche Deeskalation im Fokus

Einmal im Monat bieten die Berliner DRK-Kliniken die körperlichen Deeskalationskurse an, die von dem Kampfsporttrainer und Selbstverteidigungsausbilder Danièl Lautenschlag begleitet werden. Er ist Geschäftsführer und Gründer von Wortgefecht, einem Unternehmen, das sich auf körperliche Deeskalation spezialisiert hat.

„Es ist uns bewusst, dass körperliche Übergriffe ein unschönes Thema sind, aber lange genug wurde das Kind nicht beim Namen genannt“, heißt es auf der Website des Unternehmens. Jetzt sei es Zeit, den Menschen ein anwendbares Tool an die Hand zu geben, um derartige Situationen meistern zu können.

Umfrage offenbart „nur die Spitze des Eisbergs“

Bei einer im April erhobenen Umfrage im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft gaben 73 Prozent der Kliniken an, dass die Zahl der Übergriffe in ihren Häusern in den vergangenen fünf Jahren mäßig (53 Prozent) oder deutlich (20 Prozent) gestiegen ist. Lediglich 4 Prozent verzeichneten weniger Gewalt.

80 Prozent der Kliniken gaben an, dass der Pflegedienst weit überwiegend von Gewalt betroffen sei, besonders im Bereich der Notaufnahme.

Als Hauptursachen für Gewalt wurden alkohol- oder schmerzbedingte Übergriffe von Patienten (77 Prozent), ein allgemeiner Respektverlust gegenüber dem Krankenhauspersonal (73 Prozent) sowie krankheitsbedingtes Verhalten (69 Prozent), beispielsweise durch Demente oder psychisch Kranke, genannt. 40 Prozent der Kliniken gaben lange Wartezeiten als Ursache der Auseinandersetzungen an.

Die Krankenhausgesellschaft geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Nur 28 Prozent der verbalen und 69 Prozent der körperlichen Übergriffe würden erfasst. Über das wahre Ausmaß gebe es keine verlässlichen Schätzungen. Daher dürften die Umfrageergebnisse nur „die Spitze des Eisbergs“ darstellen.

Spezielle Leitlinien zum Schutz

Neben dem Deeskalationstraining setzen Krankenhäuser auch auf Zutrittskontrollen, Videoüberwachung und spezielle Leitlinien für den Umgang mit aggressiven Patienten.

In Nordrhein-Westfalen wurde Anfang des Monats vom Präventionsnetzwerk #sicherimDienst in Zusammenarbeit mit der lokalen Krankenhausgesellschaft (KGNW) ein Leitfaden „Gewalt und Gewaltprävention im Krankenhaus“ herausgegeben. Demnach sollen Arbeitgeber und Führungskräfte gewaltpräventive Schritte ergreifen und eine Unternehmenskultur etablieren, die keinerlei Form von Gewalt toleriert. Gewaltprävention in Krankenhäusern sei kein Nischenthema mehr, sondern „ohne Wenn und Aber ‚Chefsache‘“.

Anlässlich der Veröffentlichung erklärte Dr. Matthias Ernst, Vizepräsident der KGNW: „Für die Beschäftigten in unseren Krankenhäusern wird es zu einer wachsenden Belastung, dass die Zündschnur bei immer mehr Menschen offensichtlich kürzer wird.“

Im Hinblick auf den Angriff im Essener Krankenhaus Huttrop am 20. September, bei dem eine 23-Jährige schwer verletzt wurde, machte er jedoch auch deutlich: „Uns ist klar, dass eine derart entfesselte Gewalteruption, wie sie unsere Kolleginnen und Kollegen in Essen erleben mussten, auch mit Prävention kaum zu verhindern ist.“ Der Leitfaden sei jedoch eine Art Checkliste, damit Krankenhäuser bestehende Konzepte erweitern oder neu erarbeiten können.



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