Wenn Eltern daddeln – Deutschland in der Lesekrise

Lehrermangel, Corona-Krise, Integration oder Inklusion? Über die Ursachen der schlechten Leseleistungen der deutschen Grundschüler wird viel diskutiert. Der Publizist und Pädagoge Michael Felten sieht einen anderen Grund.
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Wenn Eltern zu viel Zeit am Telefon verbringen, bleibt ihr Kind auf der Strecke.Foto: iStock
Von 20. Juni 2023

Im Mai sorgte eine Schlagzeile für großes Aufsehen: „Jeder Viertklässler kann nicht richtig lesen“. Im internationalen Vergleich von 65 Staaten landete Deutschland in der IGLU-Studie nur auf Platz 21.  Bei der Diskussion um die Ursachen vermisst der Publizist und Pädagoge Michael Felten einen wesentlichen Aspekt, der zu dieser Situation beigetragen hat: „Den Siegeszug von Smartphone & Co“ – für ihn ist das nichts anderes als der sprichwörtliche Elefant im Raum, über den niemand spricht.

Dabei geht es weniger darum, dass Kinder selbst an diesen Geräten hängen. Vielmehr sorge „das Daddeln der Erwachsenen“ dafür, dass sie ihren Kindern weniger Aufmerksamkeit schenken. Das wirkte sich negativ auf die elterliche Bindung und das Lernverhalten der Kinder aus.

Felten rekonstruiert, wie das Leben eines getesteten Viertklässlers – er nennt ihn Paul – ausgesehen haben könnte. Wahrscheinlich war seine Mutter „schon beim Stillen mit Whatsappen beschäftigt, anstatt mit Blickkontakt und Erzählen“. Auch bei Spaziergängen könnte das Mobiltelefon eine größere Rolle gespielt haben, sodass das Baby die Mimik der Mama nicht sehen konnte. Möglicherweise habe der kleine Paul später noch ein digitales Spielgerät bekommen, damit er sich später besser in der Welt voller IT zurechtfindet.

Für eine weitere Trennung von seinen elterlichen Bezugspersonen sorgte sodann der Kita-Besuch, der nach Einschätzung des Pädagogen spätestens mit dem zweiten Lebensjahr erfolgte. Bei abendlichen Mahlzeiten oder Wochenendausflügen in der Familie habe der Junge dann immer öfter erleben müssen, dass seine Eltern „irgendwie absorbiert waren – ständig hatten sie was nachzusehen, etwas zu posten, irgendwem Echo zu geben“.

Für den Pädagogen steht Aufklärung an erster Stelle. „Gerade bildungsfernere Eltern wissen nicht um die erzieherische Tragik des Daddelns auf Seiten der Erwachsenen – insbesondere die vernachlässigende Absorbiertheit.“ Als Richtwert für Kinder gelte die 3-6-9-12-Faustregel des französischen Psychologen Serge Tisserson: Kein Fernsehen unter drei Jahren, keine eigene Spielkonsole unter sechs, Internet nach neun und soziale Netzwerke erst ab zwölf Jahren.

Mit Vorlesen Weichen stellen

„Vorlesen verbindet und bildet!“, erklärt Dr. Rainer Esser, Geschäftsführer der Zeit Verlagsgruppe, die seit 2007 jährlich gemeinsam mit der Deutsche Bahn Stiftung und der Stiftung Lesen eine Vorlesestudie durchführt. „Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, haben bessere Zukunftschancen. Sie lernen leichter, haben bessere Schulnoten und vor allem mehr Spaß am Lesen“, so Dr. Esser.

Im vergangenen Jahr ergab eine Befragung von 839 Eltern, dass 39 Prozent der ein- bis achtjährigen Kinder selten oder nie vorgelesen wird. Viele Eltern würden vergleichsweise spät mit dem Vorlesen anfangen – mit oder nach dem zweiten Geburtstag – und schon mit dem Schuleintritt wieder aufhören.

Dabei könnten Eltern gerade ab Schuleintritt nach und nach dazu übergehen, mit dem Kind im Tandem-Verfahren zu lesen, das heißt, dass sich Kind und Eltern stückweise abwechseln.

Familienzeit schafft Bindung

Sicherlich gibt es auch Kinder, die mit dem abendlichen Vorlesen das Schlafengehen etwas hinauszögern wollen. „Doch vor allem ist es eine emotionale Erfahrung, die Eltern mit ihrem Kind teilen können“, heißt es von der Akademie für Lernpädagogik.

Das Kind könne wertvolle, gemütliche Zweisamkeit mit den Eltern genießen und sich beim Kuscheln auf der Couch entspannen. Außerdem entstünden beim Zuhören spannende Bilder im Kopf. „Das tut nicht nur der individuellen Entwicklung des Kindes, sondern auch der Beziehung gut.“

Ob Märchen, Fabeln oder Bilderbuch – durch konzentriertes Zuhören setzt sich das Kind mit dem Text auseinander. Es lernt viele Wörter und Satzstrukturen kennen, wodurch der Wortschatz erweitert und die Ausdrucksfähigkeit verbessert wird. „Bereits 15 Minuten tägliches Vorlesen reichen aus, um dem Kind für die Zukunft was Gutes zu tun und die Beziehung zu pflegen – auch dann noch, wenn es in der Grundschule schon Lesen gelernt hat.“



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