Was uns Homers Odyssee über den Wert der Vaterschaft lehrt

Mindestens jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einem Haushalt ohne Vater auf. Was macht das mit einer Gesellschaft? Inspiration dazu findet sich zu diesem – anscheinend nicht neuen Thema – in den altgriechischen Dichtungen.
Titelbild
In der „Odyssee“ von Homer geht es darum, wie ein Vater sein Zuhause wieder in Ordnung bringt. „Eine Lesung aus Homers Büchern“, Lawrence Alma Tadema. Philadelphia Museum of Art.Foto: Gemeinfrei
Von 2. August 2024

Den meisten ist der Titel des Buches „Die Odyssee“ von Homer ein Begriff. Bei der Erinnerung an Thema und Inhalt des epischen Gedichtes wird es schon schwerer. Vielleicht tauchen Bilder von Schiffen auf dem Meer, bedrängt von Seeungeheuern auf.

Ein wütender Zyklop beispielsweise, der das Schiff des Odysseus mit Felsbrocken bewirft, wobei jedes Mal die glitzernde Oberfläche des Mittelmeers jäh aufgerissen wird und die Gischt turmhoch aufsteigt.

Oder man denkt an das aufgewühlte Wasser um Charybdis, wenn die Kreatur „das weindunkle Meer“, wie Homer es so schön nennt, gierig hinunterschlingt, während Odysseus darum kämpft, nicht in die Reichweite des Ungeheuers zu geraten.

Man könnte sich jetzt fragen, was eine antike Abenteuergeschichte aus dem späten achten oder frühen siebten Jahrhundert v. Chr. mit der heutigen Gesellschaft gemein hat.

Wunsch nach Rückkehr zu Frau und Kind

Obwohl die Geschichte an Monstern und magischen Momenten nicht spart, ist dies nicht das Hauptaugenmerk des Autors. Er konzentriert sich vielmehr auf Fragen zu Heimat, Familie und vor allem Vaterschaft – Themen, die immer relevant sein werden.

Im Herzen befasst sich das Epos „Die Odyssee“ damit, was es bedeutet, eine Nation zu führen oder respektive einen Hausstand, einen Ehepartner und ein Kind zu haben.

„Es gibt kein schöneres, größeres Geschenk auf der Welt als das, […] wenn Mann und Frau ihr Heim besitzen, zwei Köpfe, zwei Herzen, die wie eins wirken. Verzweiflung für ihre Feinde, Freude für all ihre Freunde“, sagt Odysseus in Buch VI (in der englischen Übersetzung von Robert Fagles). Diese Worte widerspiegeln seinen eigenen Wunsch, mit Frau und Sohn vereint zu sein.

Diese starke Sehnsucht trägt ihn durch alle Strapazen und Entbehrungen seines 20-jährigen Leidensweges, zunächst im Trojanischen Krieg und dann bei seinem Versuch, von dort nach Hause zurückzukehren.

Homer nennt ihn den „ausdauernden Odysseus“. Er erträgt alles, um seine Heimat wiederzusehen.

Ärger im eigenen Land

Homer zeigt uns auch, wie leicht der häusliche Frieden gestört werden kann. In „Die Odyssee“ sehen wir, was passiert, wenn dem Land die Führung fehlt, wenn Ehepartner auseinandergerissen werden und wenn Kinder vaterlos aufwachsen.

Während Odysseus‘ langer Abwesenheit im Trojanischen Krieg läuft auf seiner Heimatinsel Ithaka vieles aus dem Ruder. Im Laufe der Jahre glauben die Bewohner von Ithaka, dass ihr König Odysseus tot sei.

Infolgedessen scharen sich zahlreiche junge Männer um Odysseus‘ Frau Penelope, in der Hoffnung, ihre Hand – und damit das Königreich – zu gewinnen. Diese Männer dringen in ihr Anwesen ein und leben von ihrem und Odysseus‘ Reichtum.

Sie treiben sich in Penelopes Bankettsaal herum, trinken und lachen und belästigen die Dienstmädchen; offensichtlich ohne Rücksicht darauf, wie sie damit Odysseus beleidigen, das Andenken an ihn mit Füßen treten und seine Frau in ihrer Würde demütigen.

Die jungen Männer füllten die Schüsseln mit Wein. Sie griffen nach den guten Dingen, die sich ihnen boten, und als sie das Verlangen nach Essen und Trinken beiseitegeschoben hatten, widmeten sich die Freier anderen Vergnügungen, dem Gesang und dem Tanz, all dem, was ein Fest krönt. (Buch I)

Die Freier denken nur daran, sich zu amüsieren. Sie sind die Extremvariante des Gastes, der die Gastfreundschaft des Gastgebers überstrapaziert. Ein derartiger Missbrauch der Gastfreundschaft wurde in der griechischen Welt der Antike als noch verwerflicher angesehen als heute.

Die Griechen hielten sich an die „Xenia“, die heiligen Gesetze der Gastfreundschaft, die das Verhältnis zwischen Gast und Gastgeber regelten. Die Gastgeber mussten jeden willkommen heißen und dafür sorgen, dass die Gäste etwas zu essen und zu trinken bekamen, bevor sie nach ihrem Namen gefragt wurden.

Im Gegenzug sollten die Gäste ihre Gastgeber respektieren und ehren, ihnen als Dank Geschenke anbieten und sich nicht zu lange aufdrängen.

Die Freier hatten die heiligen Bräuche ihrer Vorväter aufgegeben. Aber niemand schritt ein, um diesem Verhalten ein Ende zu setzen. Es herrschte Chaos in Ithaka.

In Ithaka herrscht Chaos, aber niemand schreitet ein, um diesem Verhalten ein Ende zu setzen. „Penelope und die Freier“, 1911–12, John William Waterhouse. Foto: Public Domain

Was hat diese jungen Männer so schamlos, so unkontrollierbar und so unwissend gegenüber heiligen Traditionen gemacht? Die mangelnde Väterlichkeit ist sicherlich eine Antwort darauf.

Odysseus war nicht der einzige Mann aus Ithaka, der nach Troja segelte; eine ganze Generation von Vätern verließ die Insel, als sie zu den Waffen gegen die Trojaner griffen. Und eine ganze Generation von Jungen wuchs ohne die Führung durch die älteren und weiseren Männer von Ithaka auf.

Ist es da ein Wunder, dass diese Jungen nicht zu Männern heranreiften? Ist es ein Wunder, dass sie nie gelernt haben, etwas anderes zu suchen als kindliche Vergnügungen? Ist es ein Wunder, dass sie die Bräuche ihrer Vorfahren wie zum Beispiel Xenia vergessen haben?

Wie man ein Mann wird

Zuallererst sollten Väter den Jungen das Wissen um die Traditionen ihrer Gesellschaft vermitteln und warum diese wichtig sind. Gute Väter lehren ihre Söhne auch, ihre Männlichkeit zu nutzen, um anderen zu dienen und sie zu beschützen, anstatt sie auszunutzen.

Ohne diese Lehrer wissen Jungen nicht, wie man ein Mann ist. Sie können die Verbindungen nicht entdecken, die sie zur Vergangenheit aufrechterhalten müssen, oder – schlimmer noch – sie verachten diese Verbindungen.

Wenn ein Junge nicht sieht, dass sein Vater kulturelle Traditionen ernst nimmt, wird er in der Regel zu dem Schluss kommen, dass diese Traditionen nicht wichtig sind.

Homers Weisheit hallt durch die Jahrhunderte zu uns herüber, und was damals für die Bedeutung der Vater-Sohn-Beziehung galt, gilt auch heute noch.

Infolge der beiden Weltkriege war Vaterlosigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus eine weitverbreitete Realität – und ist es immer noch. 2023 gab es rund 1,57 Millionen Alleinerziehenden-Familien in Deutschland. Auf „Statista“, der Seite des Statistischen Bundesamtes, ist zu lesen: „Damit gab es in knapp jeder fünften Familie mit Kindern unter 18 Jahren (19 Prozent) nur einen Elternteil“ und dies war in den meisten Fällen (88 Prozent) die Mutter.

Diese Tatsachen sollten uns beunruhigen, wenn man bedenkt, dass in Deutschland rund ein Fünftel der Kinder in einem Haushalt ohne Vater lebt und die Anzahl sich entsprechend erhöht, wenn die Geschwisterkinder hinzugerechnet werden. In den USA beispielsweise lebt schon jedes vierte Kind in einem Haushalt ohne Vater.

Ist es da ein Wunder, dass die jungen Männer von heute wie die Freier in den Hallen des Odysseus den Bezug zu ihren eigenen kulturellen Traditionen verloren haben? Und dass sie sich in Ermangelung hoher Ideale oft Videospielen und Pornografie zuwenden, also sich „anderen Vergnügungen zuwenden“, wie Homer schreibt?

Das Fehlen der Väter in den Familien verheißt gesamtgesellschaftlich nichts Gutes. Und das gilt auch auf kultureller Ebene.

Grundlegender Wert der Beziehung zwischen Vater und Sohn

Doch trotz des düsteren Bildes, das Homer von einer zerrütteten, vaterlosen Gesellschaft zeichnet, endet das Gedicht mit einer zutiefst hoffnungsvollen Note. Als Odysseus zurückkehrt, kämpft er sofort gegen das Chaos an.

Und sein größter Verbündeter ist sein Sohn Telemachus. Telemachus war noch ein Baby, als Odysseus nach Troja aufbrach. Aber jetzt ist er 20 Jahre alt und gibt sein Bestes, um die Fehler seiner Generation zu überwinden.

Telemachus steht an der Seite seines Vaters Odysseus, um sein Zuhause zu verteidigen gegen diejenigen, die es bedrohen. „Odysseus und Telemachus töten die Freier“, 1812, von Thomas Degeorge. Kunstmuseum Roger Quilliot, Auvergne, Frankreich. Foto: Bildausschnitt, Sailko/CC BY 3.0

Unter dem Einfluss seines Vaters erblüht Telemachus zum Mann. Er wird stark genug, um an der Seite seines Vaters zu stehen, wenn Odysseus denjenigen den Kampf ansagt, die seine Frau und seine Diener belästigt und drangsaliert haben.

Als sie sich in die Augen sehen, spüren Vater und Sohn eine Welle der Liebe, der Kraft und des Vertrauens. Diese tiefe Verbindung brauchen sie auch, um sich gemeinsam den übergriffigen jungen Männern zu stellen. Der Mangel, den Telemachus von seiner vaterlosen Kindheit in sich trägt, verschwindet fast augenblicklich.

Homer setzte die Hoffnung, das Elternhaus wieder zu stärken und dessen Einfluss zu bewahren, auf das Band zwischen Eltern und Kind. Und wenn die Griechen in dieser grundlegendsten aller Beziehungen – hier zwischen Vater und Sohn – Hoffnung für die Menschheit sahen, können wir das vielleicht auch.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion