Tatsachenbericht oder Theaterdrama? Medienprofis nehmen den „CORRECTIV“-Bericht unter die Lupe
Ein Artikel des Rechercheteams „CORRECTIV“ hatte nach seiner Veröffentlichung am 10. Januar 2024 deutschlandweit hohe Wellen geschlagen. Die Autoren hatten ein privates Treffen von Mitgliedern der AfD, der CDU, parteilosen Gästen und Martin Sellner, dem Gesicht der „Identitären Bewegung“ Österreichs, in einem Potsdamer Landhotel im November 2023 mit großem Aufwand ausgespäht. Ihre Beobachtungen veröffentlichten sie sechs Wochen später unter dem Titel „Geheimplan gegen Deutschland“.
Das Berliner Ensemble hatte es zudem geschafft, auf Grundlage der „CORRECTIV“-Notizen schon eine Woche nach der Veröffentlichung des Artikels eine gut einstündige „szenische Lesung“ auf die Bühne zu bringen – dargeboten in einem Stil, der zuweilen an Brechts Idee eines „epischen Theaters“ erinnerte (Video ab ca. 16: 25 Min. auf YouTube).
Seitdem ist viel geschrieben worden über die mutmaßlichen Inhalte der Potsdamer Tischkonversation. Die Schlagworte Remigration und „Wannseekonferenz 2.0“ wurden diskutiert sowie die Anti-AfD-Massendemonstrationen, die sich in den folgenden Wochen über ganz Deutschland erstreckten und die Bauernproteste schnell von den Titelseiten verdrängt hatten. Im Juli gewann das „gemeinwohlorientierte Medienhaus“ „CORRECTIV“ für seinen Text den Leuchtturm-Preis des Vereins Netzwerk Recherche.
Auch wenn nach diversen Gerichtsverhandlungen längst klar ist, dass der Artikel relativ wenig überprüfbare Tatsachenbehauptungen und dafür umso mehr subjektive Wertungen und Meinungen enthält, besteht kein Zweifel: „CORRECTIV“ war 2024 ein echter Coup gelungen, der mittlerweile in acht Sprachen übersetz und von anderen Medienplattformen republiziert wurde.
Der professionelle Blick auf den Geheimplan-Artikel
Ein Jahr nach dem Treffen, am 19. November 2024, fanden sich auf Einladung des Hochschuldozenten Peter Welchering vom Kölner Journalistenverband „Die Wissenschaftsjournalisten“ etwa drei Dutzend Journalisten und der Medienanwalt Carsten Brennecke in einer Videokonferenz zusammen, um die rechtlichen und journalistischen Aspekte des „CORRECTIV“-Textes und der nachfolgenden Berichterstattung in den großen Medienhäusern zu diskutieren. Aus der „CORRECTIV“-Redaktion war zum Bedauern der Gastgeber niemand der ausdrücklichen Einladung gefolgt.
Brennecke, nach eigenen Worten selbst ein Anhänger der Grünen, hatte den Staatsrechtler Dr. Ulrich Vosgerau bei seinen Rechtsstreitigkeiten mit „CORRECTIV“ vertreten. Vosgerau hatte selbst an dem Potsdamer Treffen teilgenommen und sich gegen die aus seiner Sicht falsche Wiedergabe seiner Standpunkte gewehrt – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.
Brennecke: „Journalismus in erheblichem Maß Schaden zugefügt“
Nach einer guten Stunde Diskussionen zur Frage, wo eine Tatsachenbehauptung aufhört, die Meinungsäußerung beginnt und inwiefern Journalisten zu besonderer Sorgfalt verpflichtet sind, ließ Rechtsanwalt Brennecke seiner Sorge darüber freien Lauf, wie sehr „CORRECTIV“ dem Journalismus und auch manchen Kollegen der schreibenden Zunft „in erheblichem Maße Schaden zugefügt“ habe.
Die erste Gefahr bestehe schon darin, dass man Journalismus und Aktivismus nicht vermischen dürfe, meinte Brennecke. Beides seien wichtige Tätigkeiten, die aus professioneller Sicht aber getrennt stattfinden sollten. Andernfalls werde der Journalismus insgesamt immer mehr an Glaubwürdigkeit verlieren.
Brennecke bemängelte zudem, dass „CORRECTIV“ seinen Rezipienten aus den großen Medienhäusern niemals nahegelegt habe, seinen Text nicht als reinen Tatsachenbericht zu verstehen, sondern als eine Art Drama, das einen Großteil seiner Brisanz vorrangig aus den vielen subjektiven Interpretationen und Wertungen seiner Autoren gezogen hatte.
Schraven hatte meinungsbetonten Stil eingeräumt
„CORRECTIV“-Geschäftsführer David Schraven hatte nach Informationen der „Legal Tribune Online“ bereits im Februar vor dem Landgericht Hamburg eingeräumt, dass es sich bei manch strittiger Textpassage lediglich um „Überzeugungen“, „unsere Auffassung“ oder „wertende Schlussfolgerungen“ gehandelt habe.
Brennecke wies darauf hin, dass es damit letztlich um Meinungsäußerungen ging, die wegen des Grundrechts der Meinungs- und Pressefreiheit auch dann nicht juristisch angreifbar seien, wenn die Öffentlichkeit sie als falsche Tatsachenbehauptungen missverstehe. Die Redaktionen von ZDF, SWR oder NDR aber hätten die Story von den angeblich geplanten „millionenfachen Deportationen“ von Millionen Menschen wegen „falscher Hautfarbe oder Herkunft“ wohl von Anfang an so gut gefunden, dass sie auf eine eigene Suche nach Beweistatsachen verzichtet hätten.
Das habe wohl auch daran gelegen, dass die Redaktionen schon am Morgen des Erscheinungstages mit einem „eingedampften“ Text versorgt worden seien, dessen Tonfall „ganz bewusst“ triggern sollte.
Brennecke: „Am Ende tun mir die Leute bei ZDF und im SWR leid“
Damit habe „CORRECTIV“ die Kollegen „ins offene Messer laufen lassen“, so Brennecke. Denn diesen wurden ähnlich lautende Formulierungen über „Deportationen“ deutscher oder „unliebsamer“ Staatsbürger einige Monate später gerichtlich untersagt, weil diese bei „CORRECTIV“ eben nicht als Tatsachenbehauptungen, sondern nur in wertenden Textstellen auftauchten. Brennecke erklärte:
Am Ende tun mir die Leute bei ZDF und im SWR leid, weil sie darauf hereingefallen sind und damit dem Journalismus auch noch geschadet haben.“
Der Recherche-Experte und Hochschuldozent Peter Welchering gab zu bedenken, dass es Journalisten rechtlich erlaubt sei, Sachverhalte derart dramatisch darzustellen, wie es „CORRECTIV“ getan habe. Eine besondere Kennzeichnung als Meinungs- oder Kommentarstück sei dazu nicht nötig. Da der Originaltext ja mit Begriffen wie Prolog und Epilog gearbeitet habe, hätte seiner Ansicht nach „jedem Journalisten sofort klar sein müssen, dass es sich um ein Drama in drei Akten“ handele.
Ungeklärte Quellenlage
Von Medien wie dem ZDF sei das literarische „CORRECTIV“-Drama allerdings meist ungeprüft und fälschlicherweise als Reportage oder Bericht ausgewiesen worden. „Es wurde so getan, als ob sich alles tatsächlich so zugetragen habe, obwohl die Quellen weder konkret benannt noch belegt waren“, bemängelte Welchering. Selbst große Medienhäuser hätten darauf verzichtet, die Fakten nachzurecherchieren oder ihr Publikum darüber in Kenntnis zu setzen, dass die Quellenlage alles andere als nachprüfbar war.
Sowohl Welchering als auch Brennecke äußerten jedoch Verständnis dafür, dass solche Leser, die von der „Geheimplan“-Story nur über den Umweg anderer Medien erfahren hätten, deren Darstellungen für bare Münze genommen hätten und vielleicht auch deshalb „gegen rechts“ auf die Straße gegangen seien.
Bericht erinnert an Journalismus der Weimarer Republik
Welchering erkannte im Kniff von „CORRECTIV“, die journalistische Stilform der Nachricht mit der literarischen Stilform der Dramatik zu vermischen, eine längst überholt geglaubte Art des Schreibens: Ein ganz ähnlicher Journalismus habe „bereits in der Weimarer Republik zur Spaltung der Gesellschaft geführt“.
Als Beispiel nannte Welchering den „Weltbühne“-Prozess, nach dem Carl von Ossietzky, der Herausgeber der gleichnamigen Zeitschrift, 1931 wegen „Verrats militärischer Geheimnisse“ zu 18 Monaten Haft verurteilt worden war. Nach Angaben der „Welt“ kam Ossietzky nach 227 Tagen wieder frei. Stein des Anstoßes sei ein militärkritischer Artikel aus seiner Feder gewesen, der unter dem Titel „Windiges aus der deutschen Luftfahrt“ am 12. März 1929 erschienen sei.
Nach einer Untersuchung des Historikers Prof. Dr. Karl Christian Führer hatten Journalisten in den Jahren 1929 bis 1933 „entscheidend zur Vergiftung des politischen Klimas in Deutschland beigetragen, weil sie die weltanschauliche ‚Führung‘ der Leser als ihre Hauptaufgabe verstanden“.
Seit Abschaffung des Verbots von „Nachrichtenmanipulationen“ nach dem Ersten Weltkrieg hätten sich „staatliche Versuche, die politische Hetze in Tageszeitungen einzudämmen“, als „weitgehend wirkungslos“ erwiesen, heißt es in der Zusammenfassung des Textes von Prof. Führer. Zudem hätten die Zeitungsleser eine „wachsende Unduldsamkeit“ gegen „alle Informationen, die ihr geschlossenes Weltbild störten“, an den Tag gelegt.
Belege für das in Potsdam angeblich Gesagte legte „CORRECTIV“ übrigens bis heute nicht vor – des Quellenschutzes wegen. Das auch aus Steuermitteln und privaten Stiftungen unterstützte Netzwerk hatte das Potsdamer Landhaus eigenen Angaben zufolge „undercover“ aufgesucht und auf verschiedene „sehr zuverlässige Quellen“ zurückgegriffen, wie es in den FAQs zum Artikel heißt.
Eine ausführliche Replik auf eine frühere Kritik des Onlineportals „Übermedien“ findet sich in der „CORRECTIV“-Rubrik „In eigener Sache“.
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