Studie: Jede zweite Lehrkraft beobachtet Gewalt an eigener Schule

Fast jede zweite Lehrkraft in Deutschland sieht an der eigenen Schule ein Problem mit psychischer oder physischer Gewalt. Auch die zunehmende Heterogenität der Klassen und das Konzept inklusive Beschulung wird von pädagogischen Fachkräften, die beim aktuellen Deutschen Schulbarometer befragt wurden, kritisch gesehen. 
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Das größte Problem für Lehrer ist das Schülerverhalten. Symbolbild.Foto: iStock
Von 26. April 2024

Fast jede zweite Lehrkraft in Deutschland sieht an der eigenen Schule ein Problem mit psychischer oder physischer Gewalt. Das geht aus dem aktuellen sogenannten Deutschen Schulbarometer der Robert Bosch Stiftung hervor. Bei der Studie haben Lehrkräfte die aktuelle Situation an deutschen Schulen in einer repräsentativen Umfrage eingeschätzt.

Die jüngsten Ergebnisse des Schulbarometers zeigen einen akuten Handlungsbedarf im Bildungssystem auf: Lehrermangel und vernachlässigte Schulinfrastruktur stehen ganz oben auf der Agenda, während das Verhalten der Schüler und die Heterogenität der Klassen als größte Herausforderungen genannt werden.

Die repräsentative Studie zeigt laut der Stiftung, dass Gewalt an der eigenen Schule das Burnout- und Stressrisiko von Lehrern deutlich erhöht. So gaben mit 36 Prozent mehr als ein Drittel der Befragten an, sich mehrmals pro Woche emotional erschöpft zu fühlen. Jeder Zehnte fühlt sich sogar täglich erschöpft. Das gelte vor allem für jüngere und weibliche Lehrkräfte sowie für Grundschullehrer. Als Risikofaktoren zeigten sich Gewalt unter den Schülern sowie eine hohe Anzahl von Schülern mit geringen Sprachkenntnissen in der Klasse.

Den dringendsten Handlungsbedarf sehen die Lehrer laut Umfrage bei der Behebung des Personalmangels (41 Prozent). Besonders brennend scheint das Thema an den Grundschulen wahrgenommen zu werden: Jede zweite Grundschullehrkraft (51 Prozent) sah dies als den akutesten Bedarf an ihrer eigenen Schule. 

Auf Platz zwei der Bedarfsliste folgen mit 35 Prozent Investitionen in marode Schulgebäude und in die technische und digitale Ausstattung.

Das größte Problem für Lehrer ist das Schülerverhalten

Als größte Herausforderung nehmen die Lehrkräfte das Verhalten der Schüler (35 Prozent) wahr. Zur Kategorie „Verhalten der Schüler“ gehören die Bereiche Integration, allgemeine Heterogenität, Inklusion und Leistungsunterschiede. Das Thema Heterogenität wurde überdurchschnittlich häufig von Grundschullehrkräften aufgegriffen (45 Prozent). Für sie ist es aktuell die größte Herausforderung in ihrem beruflichen Alltag. Hier gibt es eine starke Veränderung zur Vorjahresuntersuchung: Dieser Wert ist im Vergleich zum Schulbarometer 2023 um 10 Prozentpunkte deutlich gestiegen.

Die Studienmacher schreiben: „Heterogenität im Sinne von Vielfalt ist ein wesentliches Merkmal unserer Gesellschaft und damit auch in Schulen.“ Dazu gehörten Aspekte wie die individuelle Lernbiografie, Erfahrungen aufgrund der kulturellen und familiären Herkunft, Unterschiede in der Verfügbarkeit von bildungsbezogenen Ressourcen in den Familien sowie unter Umständen auch besondere Förderbedarfe. Die neuesten Ergebnisse aus der letzten PISA-Erhebung 2022 zeigen: 30 Prozent der 15-Jährigen verfügen beispielsweise nur über Grundkompetenzen in Mathematik. Das waren „die schlechtesten Bildungsergebnisse seit 23 Jahren“, wie Kai Gehring, Vorsitzender des Bundestagsbildungsausschusses, kommentierte. Es handele sich um mehr als ein weiteres Alarmzeichen.

Laut der Studienmacher des Deutschen Schulbarometers, welches seit 2019 jährlich erhoben wird, lasse sich die vorhandene kulturelle Heterogenität in Deutschland beispielsweise daran ablesen, dass inzwischen 27 Prozent der Bevölkerung einen Zuwanderungshintergrund angeben. Der Anteil an Schülern mit kultureller Heterogenität, insbesondere in den Grundschulen, wird in den nächsten Jahren erwartungsgemäß noch steigen. Von den unter 6-Jährigen haben 40 Prozent eine internationale Migrationsgeschichte, auch wenn die überwiegende Mehrheit inzwischen bereits in Deutschland geboren wurde. 

Lehrer sehen Heterogenität und Inklusivität kritisch

Zu den Aspekten Heterogenität und Inklusion gehören laut Studienbeschreibung sonderpädagogische Förderbedarfe, Behinderungen, Fluchterfahrungen und Migrationshintergrund, religiöse Orientierung sowie Hochbegabung. Die verschiedenartigen Kinder sollen nach dem jetzigen Bildungskonzept nicht individuell, sondern gemeinsam „gefördert“ werden. Doch die befragten Pädagogen sandten diesbezüglich ein eindeutiges Signal: 74 Prozent der Lehrkräfte gaben an, dass eine inklusive Beschulung von Schülern den Unterricht nicht verbessere (32 Prozent „überhaupt nicht“, 42 Prozent „eher nicht“).

Insgesamt 55 Prozent der Lehrkräfte befanden zudem, dass inklusive Schulung nicht gewinnbringend für alle Schüler sei. Über zwei Drittel der Lehrkräfte (68 Prozent) glauben, in einer inklusiven Beschulung leide die Qualität des Unterrichts, 86 Prozent fühlen sich durch den Mehraufwand des inklusiven Unterrichts überfordert.

Kurz: Die pädagogischen Fachkräfte, die vor Ort in den Schulen oft an erster Stelle Veränderungen bemerken, äußern sich vielen Aspekten von Heterogenität im schulischen Alltag und Inklusion gegenüber kritisch. Dafür haben die Studienmacher gleich einen Lösungsvorschlag parat: Ein Perspektivenwechsel von Heterogenität zu Diversität sei von essenzieller Bedeutung, denn während „Heterogenität Unterschiede oft als Herausforderung betrachtet, wird in der Diskussion um Diversität betont, dass Unterschiede ein Potenzial darstellen können.“

Lehrer als „Multiplikator:innen in Diversity-Konzepten“

Deshalb soll eine tiefgreifende Implementierung diversitätssensibler Strukturen im schulischen System angeregt werden. Lehrkräfte sollen „als Multiplikator:innen in Diversity-Konzepten“ geschult werden, um die „Vielfältigkeit des menschlichen Zusammenlebens, gesellschaftlicher Normen und individueller Überzeugungen zunächst wertneutral zu betrachten bzw. als gesellschaftliche Realität anzunehmen und nicht primär als Herausforderung zu interpretieren“. 

Agenda 2030 bestimmt Bildung

Hier berufen sich die Studienmacher auf die globale Nachhaltigkeitsagenda 2030 der Vereinten Nationen, wo das Ziel festgeschrieben ist, eine „inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sicherzustellen sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen zu fördern“. Laut UNESCO ist ein wesentlicher Aspekt der Agenda 2030 im Bildungssektor: „Bildungssysteme müssen sich auf diese Heterogenität flexibel einstellen können und dürfen nicht starr sein. Nicht der Lernende muss sich in ein bestehendes System integrieren, sondern das Bildungssystem muss die Bedürfnisse aller Lernenden berücksichtigen und sich an sie anpassen.“

„Wir sehen in den Ergebnissen die Momentaufnahme eines kranken Systems“, erklärte Dagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung der Robert Bosch Stiftung in Bezug auf die Studienergebnisse.

Mit Material von Agenturen



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