Droht NRW zum „sicheren Hafen für Kriminelle“ zu werden?

Unter verurteilten Kriminellen und ihren Anwälten spricht es sich herum, dass man in Berlin und in Nordrhein-Westfalen als Strafgefangener besser davonkommt als anderswo in Deutschland. Man spricht von „Strafvollzugstourismus“. Doch was genau steckt dahinter?
Es geht um Hafterleichterungen – und dafür müssen die Verurteilten lediglich ihren Wohnsitz kurzfristig ändern, noch bevor sie einsitzen. Dabei wird die zeitliche Lücke zwischen Verurteilung und Haftantritt genutzt, um in Bundesländer mit lockereren Strafvollzugsbedingungen umzuziehen. Denn mit der Föderalismusreform I von 2006 wurden die Zuständigkeiten für den Strafvollzug vom Bund zu den Ländern bewegt.
Die Zuweisung einer Justizvollzugsanstalt erfolgt bundesweit nach dem Wohnortprinzip (Strafvollstreckungsordnung Paragraf 24) und es gibt keine gesetzliche Regelung, die Verurteilten vor Haftantritt einen Wohnsitzwechsel verbietet. Zwischen einem rechtskräftig gewordenen Urteil und einem Haftantritt können Wochen und sogar mehrere Monate – aus juristischen oder organisatorischen Gründen – vergehen, es sei denn, der Delinquent wechselt direkt von der Untersuchungshaft in den Strafvollzug, wie es bei besonders schweren Straftaten oder bei akuter Flucht- oder Wiederholungsgefahr der Fall ist.
Beliebte Bundesländer für verurteilte Kriminelle
Der Strafvollzug in NRW und Berlin hat gewisse Vorteile zu bieten, was ihn zu einem Anziehungspunkt für Kriminelle deutschlandweit macht. Immerhin sind einer im Dezember 2023 veröffentlichten Studie zufolge sechs- bis zehnmal so viele Gefangene im offenen Vollzug in NRW wie in Bayern, Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen. Die Quote lag 2022 in NRW bei 28,6 Prozent, in Thüringen nur bei 2,8 Prozent.
In manchen Bundesländern ist man von einer um 1996 ähnlich hohen Quote beim offenen Vollzug wie derzeit in Berlin und NRW laut den Studienzahlen bis 2022 wieder abgekommen: In Niedersachsen sank der Anteil von 28,4 auf 11,3 Prozent, in Hessen von 27,3 auf 4,9 Prozent und in Hamburg von 31,3 auf 14,2 Prozent.
Staatsanwälte machtlos, Opposition fordert Handeln
Wen wundert es also, dass manche Bundesländer bei verurteilten Kriminellen viel beliebter sind als andere? Für so manche Staatsanwaltschaften ist dieser Zustand allerdings ein Dorn im Auge. Ein Kölner Staatsanwalt sprach gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ von einer „Gerechtigkeitslücke“.
Der Sprecher der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main bestätigte dem Blatt einen „sogenannten Vollzugstourismus, der nach unserem Kenntnisstand vor allem in die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Berlin“ stattfinde. Der Behördensprecher berichtet aus seinem Bereich von einem Problem, das „tagesaktuell weiterhin zu verzeichnen“ sei.
Nach Ansicht der FDP-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen sei das Bundesland inzwischen auf dem Weg zum „Hafterleichterungs-Paradies“. Werner Pfeil, rechtspolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Landtag von NRW, sagte: „Wir sehen einen Strafvollzugstourismus außer Kontrolle“ – und Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) müsse handeln.
Wenn das nicht geschehe, drohe NRW zum „sicheren Hafen für Kriminelle“ zu werden, was man verhindern müsse. „Es kann nicht sein, dass selbst Schwerkriminelle mit internationaler Vernetzung nach kürzester Zeit tagsüber wieder frei herumlaufen.“
Die FDP habe diesbezüglich eine Kleine Anfrage an die Landesregierung gestellt. Man will wissen, „wie viele Straftäter aus dem offenen Vollzug geflohen oder erneut straffällig geworden sind – und warum sich NRW so drastisch von anderen Bundesländern unterscheidet“.
Angesichts solcher und ähnlicher Vorwürfe an das grün geführte Justizministerium wies Justizminister Limbach die Kritik zurück. Der Sprecher der Justizvollzugsdirektion NRW erklärte: „Ziel des modernen Strafvollzuges ist nicht Vergeltung und Sühne, sondern die Resozialisierung der Gefangenen, also die Befähigung der Gefangenen, künftig ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu führen.“
Fallbeispiele aus NRW
Der rechtspolitische Sprecher der FDP in NRW erwähnte ein paar aktuelle Fälle, die zeigen, „wie absurd die Situation inzwischen ist“:
So sitze der Kölner Corona-Test-Betrüger Can H., der mit falschen Abrechnungen Millionen erschwindelte, bereits im offenen Vollzug. Der im Juni 2024 zu fünfeinhalb Jahren verurteilte Deutsch-Türke hat sich zuvor gern mit Porsche, Ferrari und Lamborghini gezeigt und hat laut Gerichtsurteil knapp 6 Millionen Euro ergaunert. Offener Vollzug bedeutet: wochentags draußen arbeiten oder zur Ausbildung gehen, soziale Kontakte pflegen – und nur zur Übernachtung und am Wochenende in die Haftanstalt.
In einem weiteren Beispiel geht es um einen syrischen Großdealer mit Kontakten zu Ex-Diktator Assad. Fast elf Jahre wurden dem Syrer Mohamad B. von einem Gericht in Essen auferlegt. Eineinhalb Jahre später kam der Mann – der aus dem Libanon mit falschen Papieren in die EU kam – schon in den offenen Vollzug. Die Staatsanwaltschaft Essen befürchtet angesichts der Haftlockerung ein Abtauchen des Mannes ins Ausland. Doch machen könne sie nichts.
(Mit Material der Nachrichtenagenturen)
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