Recht ist nicht gleich Recht
Die Fahrt führt über Land – durch kleine Straßendörfer, an Birkenalleen entlang. Die Felder sind frisch bestellt, Obstbäume und Löwenzahn blühen am Wegesrand. Alles wirkt aufgeräumt und friedlich. Die Welt ist allem Anschein nach in Ordnung. Im ländlichen Herzen Bayerns bricht der Abend an.
Im kleinen Dorf Langenmosen ist der große Saal des Baderwirts gut gefüllt. Über 100 Menschen haben an einem Mittwoch im April den Weg hierher gefunden. Sie alle hoffen, Antworten auf die Frage zu erhalten, die der Titel des angekündigten Vortrags stellt: „Wie kann Deutschland Einigkeit und Recht und Freiheit bekommen?“
Doch fehlt es Deutschland in unserer Zeit an dem, was seine Nationalhymne so zentral besingt?
Faszinierende philosophische Reise
Der deutsche Philosophieprofessor Dr. Dr. Daniel von Wachter, ein gebürtiger Münchner, ist für seine spannenden Ausführungen direkt aus dem Fürstentum Liechtenstein angereist, wo er seit einigen Jahren lebt, lehrt und forscht. Die dritte Strophe des Deutschlandliedes stellt er an den Beginn des Vortrags, zu dem ihn der Schrobenhausener Arzt Dr. Eckhard Reineke in die bayrische Provinz eingeladen hat.
Durch unermüdliches Engagement hat Reineke den Saal des Baderwirts zu einer hervorragenden Adresse für erhellende Vorträge gemacht, die Zuhörer aus nah und fern nach Langenmosen führen. Heute ist es eine faszinierende philosophische Reise, auf die Daniel von Wachter sein Publikum mitnimmt.
Unterpfand des Glückes
Warum also sind Einigkeit und Recht und Freiheit des „Glückes Unterpfand“, wie August Heinrich Hoffmann von Fallersleben im Jahr 1841 dichtete? Daniel von Wachter richtet sein Augenmerk ohne Umschweife auf den zentralen Begriff dieses Dreiklangs: das Recht.
Denn nur dort, wo wahrhaft Recht herrscht, werden auch Einigkeit, Frieden und Freiheit bestehen können. Im Vergleich zwischen der mittelalterlichen und der gegenwärtigen Auffassung zeige sich jedoch ein deutlicher Wandel des Rechtsbegriffs.
Wahrheit als höchstes Gut
Im Mittelalter sei Recht stets als objektive, übergeordnete Wahrheit betrachtet worden. Jahrhundertelang stand es somit weit über menschlichen Machbarkeits- und Machtgelüsten.
Schriftgelehrte, Richter, ja selbst Könige, Kaiser und Päpste hatten sich ausnahmslos dem übergeordneten Recht zu unterwerfen. „Dass dennoch Herrscher oft Unrecht taten, ändert nichts daran, dass es Konsens war, dass auch Herrscher unter dem Recht stehen und dass Recht nicht gemacht werden kann“, führt Daniel von Wachter weiter aus.
Gut und gerecht war eine Rechtsprechung dann, wenn sie sich an verstandesmäßiger Erkenntnis, an Erfahrung, Überlieferung und Geschichte orientierte.
Gewissenhafte Suche nach der richtigen Lösung
Recht ist demnach Wahrheit, die von der Vernunft des Menschen erfasst werden kann und ihm gleichzeitig natürliche Grenzen setzt. Innerhalb dieses klaren Rahmens setzt sich also „Recht dann durch, wenn Richter für die ihnen vorgelegten Fälle nach der richtigen Lösung suchen.“
Natürlich gibt es hier Spielräume, denn nicht jedes Detail des Rechts sei etwas Objektives, etwas zu Entdeckendes. Die Auslegung der Spielräume, wie etwa das genaue Strafmaß, wird wiederum durch die langjährige Tradition der Rechtsprechung bestimmt.
Gravierender Wandel
Ist dies aber auch das Rechtsverständnis unserer Tage?
Daniel von Wachter zitiert den Rechtsgelehrten Fritz Kern, der schon im Jahr 1919 eine Entwicklung anspricht, die spätestens mit der Französischen Revolution an Fahrt aufgenommen hatte. „Für uns hat das Recht […] nur eine einzige Eigenschaft nötig: die unmittelbare oder mittelbare Einsetzung durch den Staat“, schreibt Kern.
„Dem mittelalterlichen Recht dagegen sind zwei andere Eigenschaften anstatt dieser wesentlich: Es ist ‚altes‘ Recht und es ist ‚gutes‘ Recht. […] Ohne jene zwei Eigenschaften des Alters und des Gutseins […] ist Recht kein Recht, selbst wenn es vom Machthaber in aller Form eingesetzt sein sollte.“
1930 äußert sich der Historiker Otto Vossler über den Rechtsbegriff des Mittelalters in ähnlicher Weise, wenn er ausführt, dass „für das Mittelalter […] nicht der Staat souverän [ist], sondern das Recht […]. Der Staat ist nur […] der Diener des Rechts und der Gerechtigkeit, seine Aufgabe ist es, das Recht zu schützen und zu schirmen gegen das immer drohende Unrecht.“
Selbst könne der Staat nicht Recht erschaffen.
Folgenschwere Erfindung
21 Jahre später, im Jahr 1951, fügt der Rechtswissenschaftler und Hochschullehrer Bernhard Rehfeldt zu diesem spannenden Thema einen weiteren Aspekt hinzu: „Das Auftauchen des Phänomens der Gesetzgebung […]“, schreibt er, „bedeutet in der Menschheitsgeschichte die Erfindung der Kunst, Recht zu Unrecht zu machen.“
Er hält diese Erfindung für „folgenschwerer als die des Feuers oder des Schießpulvers.“ Denn, so Rehfeldt, „am stärksten von allen hat sie das Schicksal des Menschen in seine [eigenen] Hände gelegt“.
Die Zitate zeichnen einen gravierenden Prozess nach, den Daniel von Wachter als die Verkehrung des mittelalterlichen Rechtsbegriffs in sein Gegenteil beschreibt. Von der Überzeugung, dass Recht nicht gemacht werden kann, sei die Gesellschaft inzwischen zur Vorstellung gelangt, dass alles Recht gemacht ist.
Befehle statt Recht
War der Sinn geschriebener Gesetze früher – durch Vernunft und historische Erfahrung – gefundenes Recht festzuhalten, zu bewahren und anzuwenden, so mutieren neu erschaffene Gesetze nun zu staatlichen Befehlen und Anordnungen, die von den Menschen auch entgegen jede Vernunft, Erfahrung und Tradition befolgt werden sollen.
Die als Gesetze getarnten Befehle werden nur „Recht“ genannt, um die Menschen das Wesen des wahren Rechts vergessen zu lassen.
Zwar kenne das Grundgesetz „natürliche Rechte“ der Bürger, wie das Recht der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder oder die freie Meinungsäußerung, doch ausgerechnet staatliche Gerichte sollen diese natürlichen Rechte gegen staatliche Angriffe verteidigen.
Ein Interessen- und Machtkonflikt entsteht, der sich immer öfter zugunsten des Staates entscheidet. Eines Staates, der als „Gesetzgeber“ die Macht hat, beliebige Gesetze zu erlassen, sofern sie nur von politischen Mehrheiten beschlossen und gestützt werden.
„Traum jeden Diktators“
Der sogenannte Rechtspositivismus, die These, dass alles Recht durch Setzung entstanden ist, wird immer mehr zur Realität.
So formuliert der Staatsrechtler und Rechtspositivist Hans Kelsen im Jahr 1934 in seiner „Reinen Rechtslehre“: „Die bloße Existenz des Gesetzes erzeugt eine Pflicht, ihm zu gehorchen. Die Quelle des Rechts und die ‚Grundnorm‘ auf der alles Recht aufbaut, liegt“, so Kelsen, „im Staat.“
Eine Definition, die Daniel von Wachter als „Traum jeden Diktators“ bezeichnet. Kelsens These stelle geradezu eine Einladung an herrschsüchtige Menschen bösen Willens dar, Unrecht durch Gesetze etablieren zu wollen.
Doch auch, wenn Daniel von Wachter einen Text des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, kurz BMZ, zitiert, schleicht sich beim Zuhörer ein mulmiges Gefühl ein. Denn auch hier wird betont, Rechtsstaatlichkeit bedeute, Regierung und Verwaltung dürften nur nach bestehenden – also gemachten – Gesetzen agieren.
Mittel gegen den Rechtspositivismus
Wie aber den Siegeszug von Rechtspositivismus und übermächtigem Staat aufhalten, die sich immer öfter hinter der schönen Fassade scheinbarer „Rechtsstaatlichkeit“ verbergen? Schon die direkte Wahl der Richter durch die Bürger und eine freie Entscheidung zwischen konkurrierenden Gerichten würden, so von Wachter, den Einfluss des Staates auf die Rechtsprechung wesentlich eindämmen.
Letztlich läge es jedoch an jedem Einzelnen, sich für die Wahrheitsliebe zu entscheiden und selbst Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen – in so vielen Bereichen wie nur möglich.
Wahrheitsliebe und Selbstverantwortung
Ganz besonders gut zu verwirklichen sei diese Verantwortung, so von Wachter, in der eigenen Familie und der Erziehung und Bildung der eigenen Kinder.
Wahrheitsliebe und Selbstverantwortung seien der beste Schutz gegen blinde Staatsgläubigkeit, die nur zu leicht den Staat und seine Gesetze mit Gott und wahrem Recht verwechsle.
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