Nur noch 16 lebende Verwandte: Die Struktur der Familien wandelt sich
Diego Alburez-Gutierrez ist Leiter der Forschungsgruppe Ungleichheiten in Verwandtschaftsbeziehungen am Max-Planck-Institut (MPI) für demografische Forschung in Rostock. Zusammen mit argentinischen und niederländischen Kollegen veröffentlichte er Mitte Dezember eine Studie zur Entwicklung von Familien weltweit.
„Wir haben uns gefragt, wie sich der demografische Wandel auf die Verfügbarkeit der Verwandtschaft in der Zukunft auswirken wird“, erklärt Alburez-Gutierrez. „Wie sahen Größe, Struktur und Altersverteilung der Familien in der Vergangenheit aus und wie werden sie sich in Zukunft entwickeln?“
Für die Studie haben die Forscher historische und prognostizierte Daten der World Population Prospects 2022 ausgewertet. „Wir verwenden mathematische Modelle, um die Beziehung zwischen einer Person, ihren Vorfahren und ihren Nachkommen über einen bestimmten Zeitraum darzustellen. Das Modell liefert durchschnittliche Alters- und Geschlechtsverteilungen für verschiedene Arten von Verwandtschaft für jedes Kalenderjahr“, so Alburez-Gutierrez. Für jedes Land wurden 1.000 Verwandtschaftsverläufe berechnet.
Familien werden kleiner
Die Forscher dokumentierten weltweit Unterschiede in der Familiengröße, die sie als Anzahl der lebenden Urgroßeltern, Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel und Urenkel, Tanten und Onkel, Nichten und Neffen, Geschwister und Cousins definierten.
„Wir erwarten, dass die Gesamtzahl der Familien in allen Regionen der Welt dauerhaft abnehmen wird“, sagt Alburez-Gutierrez. Am stärksten betroffen sei Südamerika und die Karibik. Dort hatte 1950 – also vor 74 Jahren – eine 65-jährige Frau im Durchschnitt 56 lebende Verwandte. In weiteren 71 Jahren, im Jahr 2095, werden es voraussichtlich nur noch 18,3 Verwandte sein. Das entspricht einem Rückgang um 67 Prozent.
In Nordamerika und Europa, wo die Familien schon heute vergleichsweise klein sind, werden die Veränderungen weniger ausgeprägt sein. Hier hatte eine 65-jährige Frau im Jahr 1950 etwa 25 lebende Verwandte – im Jahr 2095 werden es nur noch 15,9 sein.
Außerdem werden sich die weltweiten Familiengrößen bis 2095 angleichen. Während 1950 der Unterschied zwischen dem Land mit der höchsten Familiengröße (Simbabwe) und dem Land mit der niedrigsten Familiengröße (Italien) 63 betrug, wird dieser Unterschied 2095 nur noch 11 betragen. Begründet ist das vor allem mit einem Rückgang in Simbabwe.
Mehr Pflegebedürftige, weniger Pflegende
Vorhersagen über die Verwandtschaftsverhältnisse seien im Zusammenhang mit der raschen Alterung der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung. So müssen die immer kleiner werdenden jüngeren Generationen für die immer zahlreicher werdenden älteren Erwachsenen sorgen. Hinzu kommt, dass diese älteren Menschen künftig immer weniger oder gar keine Verwandten mehr haben werden.
„Unsere Ergebnisse bestätigen, dass die Zahl der Verwandten weltweit abnimmt. Da der Altersunterschied zwischen den Menschen und ihren Verwandten zunimmt, werden die Familiennetzwerke nicht nur kleiner, sondern auch älter“, so Alburez-Gutierrez.
Besonders deutlich werde dies am Beispiel der Großeltern und Urgroßeltern. „Großeltern und Urgroßeltern werden in Zukunft durch die strukturellen Veränderungen in Familien wahrscheinlich in größerer Zahl zur Verfügung stehen. Während dies theoretisch dazu beitragen könnte, die Eltern bei der Kinderbetreuung zu entlasten, könnten diese (Ur-)Großeltern in der Realität selbst pflegebedürftig werden.“
Staat statt Familie?
Mit dieser Studie werde der (künftige) Pflegenotstand im sozialen Sektor speziell bei Entwicklungsländern noch deutlicher, so das MPI. Der Großteil der Weltbevölkerung habe jedoch derzeit keinen Zugang zu sozialen Unterstützungssystemen. Für sie sind familiäre Bindungen nach wie vor eine wichtige Quelle der Unterstützung, wenn es um die Pflege von Verwandten geht. Dies werde in Zukunft wahrscheinlich auch so bleiben.
„Diese Verschiebungen in der Familienstruktur werden wichtige gesellschaftliche Herausforderungen mit sich bringen, die von politischen Entscheidungsträgern berücksichtigt werden sollten“, so Alburez-Gutierrez abschließend.
Die Studie erschien am 19. Dezember 2023 im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“.
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