Musikschulen im Dilemma: Scheinselbständigkeit auf dem Prüfstand

Zwei Jahre ist die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts alt, wonach eine Klavierlehrerin nicht mehr auf Honorarbasis an einer Musikschule beschäftigt werden durfte. Das Urteil schlägt noch immer Wellen.
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Foto: SerrNovik/iStock
Von 29. Mai 2024

Gesang, Klavier oder Flöte? Die Nachfrage an Musikschulkursen ist groß. Knapp 1,4 Millionen Schüler nahmen im Erhebungsjahr 2021 Unterricht an 934 öffentlichen Musikschulen. Ihr Alter reicht von unter sechs bis über 60 Jahren. Im Jahr 2022 erschütterte ein Urteil des Bundessozialgerichts die Musikschulen. Denn anders als an Regelschulen sind Lehrkräfte an Musikschulen oft als Honorarkräfte beschäftigt– und damit ist möglicher Ärger vorprogrammiert.

Am 28. Juni 2022 entschied das Gericht im sogenannten Herrenberg-Urteil im Fall einer Lehrerin, die im Fach Klavier/Keyboard an einer Musikschule der Stadt Herrenberg unterrichtete. Streitgegenständlich waren Sozialversicherungsbeträge für den Zeitraum vom 4. Oktober 2000 bis zum 31. Juli 2015, da die Lehrerin als selbstständige Honorarkraft geführt wurde. Das Gericht ging davon aus, dass es sich bei dem Arbeitsverhältnis um eine Scheinselbstständigkeit handelte. Demnach hatte die Stadt Sozialabgaben für fast 15 Jahre nachzuzahlen.

Aufgrund des Urteils sind Musikschulen angehalten zu prüfen, inwieweit von einer Scheinselbstständigkeit ihrer Musikschullehrer auszugehen und in einen Arbeitsvertrag als Angestellte zu überführen ist. Andernfalls droht den Trägern die Nachforderung hoher Sozialversicherungsbeträge.

Deutscher Musikrat begrüßt Urteil

Der Deutsche Musikrat begrüßte die Entscheidung des Bundessozialgerichts, die er als Klarstellung wertet, dass Musikschullehrkräfte sozialversichert anzustellen sind. „Denn es ist ein Unding, dass in manchen Gegenden in Deutschland die so wichtige Musikschularbeit vorrangig durch Honorarkräfte getragen wird“, so Generalsekretärin Antje Valentin.

Die Musikschulträger bundesweit seien dringend aufgefordert, die Herausforderung der Umstrukturierung zu meistern. Hierfür müssten bedarfsgerechte Mittel bereitgestellt und „kluge Stufenlösungen“ gefunden werden, um das Angebot der Musikschulen im vollen Umfang erhalten zu können.

„Eine gelingende Musikschularbeit mit abgesicherten Lehrkräften, die sich für die kulturelle Bildung in einer Kommune starkmachen, ist eine Investition in die nachkommenden Generationen und für alle Bürgerinnen und Bürger ein großer Gewinn“, so Valentin. Das „Herrenberg-Urteil“ biete die Chance, zu einer Stärkung der kommunalen Musikschulen beizutragen.

Wirbel um Regelung in Sachsen

In Dresden bangten Betroffene noch bis vor Kurzem und befürchteten massive Angebotskürzungen. Die Deutsche Musik- und Orchestervereinigung unisono rechnete im April mit dem Schlimmsten und ging davon aus, dass viele Honorarkräfte ab August ihren Lebensunterhalt verlieren könnten. Denn in der Landeshauptstadt Sachsens wurden 50 neue feste Stellen benötigt, aber nur 26 waren im Gespräch.

„Es fehlen also noch 20 Stellen bzw. 600 Jahreswochenstunden“, so die Vereinigung. Besonders dramatisch sei, dass die erforderlichen Einschnitte gerade die Jüngsten und zahlreiche Kooperationen mit Schulen und Kindergärten betreffen würden. „Es geht hier um rund 2.000 Kinder“, warnte unisono-Geschäftsführer Gerald Mertens. Auch essenzielle hochwertige Ensemblearbeit des Dresdener Heinrich Schütz Konservatoriums, wo der professionelle Musikernachwuchs der Zukunft herangezogen werde, sei akut bedroht.

Aus einer der Epoch Times vorliegenden aktuellen Beschlussausfertigung der Landeshauptstadt Dresden vom 16. Mai geht hervor, dass zur Umsetzung des Gerichtsurteils entgegen der Kürzung nun doch 50 Vollzeitäquivalente (entspricht 1.520 Unterrichtsstunden) als sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in Voll- und Teilzeit für das Schuljahr 2024/25 für die weitestgehende Absicherung des Musikschulbetriebes ausgeschrieben werden sollen. Gleichzeitig wurde der Oberbürgermeister vom Stadtrat beauftragt, eine Kostenbeteiligung ab dem Schuljahr 2025/26 mit dem Bund und dem Freistaat Sachsen zu verhandeln.

Das Dresdner Heinrich Schütz Konservatorium begrüßte diesen Vorstoß: „Damit setzt die Landeshauptstadt Dresden als Rechtsträgerin des Eigenbetriebes ein positives Signal für die Absicherung des musischen und tänzerischen Unterrichtes im bisherigen Umfang auch für das neue Schuljahr und zugleich für die musisch-kulturelle Bildung der Stadt Dresden.“

Kritik an „Mikroverträgen“

Doch es regt sich auch Kritik. Christian Scheibler, Geschäftsführer des Deutschen Tonkünstlerverbands Sachsen, sieht „erhebliche Mängel“ bei der Umsetzung der Rechtsprechung. Auch wenn Pädagogen schon jahrelang an den Musikschulen als Honorarlehrkräfte tätig waren, sei in neuen Verträgen eine sechsmonatige Probezeit vereinbart, wie sich am Beispiel in Leipzig zeigte.

Dort wurden bereits zum 1. Februar von der Stadt als Träger der Musikschule Leipzig „Johann Sebastian Bach“ 147 Honorarlehrkräfte in ein sozialversicherungspflichtiges Anstellungsverhältnis nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) überführt. Scheibler spricht von „Mikroverträgen“, die keine Existenzsicherung darstellen, da die Vergütung der Lehrer je nach Stundenanzahl unter 1.000 Euro liegen kann. Schwierigkeiten sieht er auch in Bezug auf mögliche Nebentätigkeiten der Lehrer.

Rechtsprechung nur für Einzelfälle

Der Landesverband der freien Musikinstitute Bayern e.V. sieht die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gelassen. Es handele sich bei dem Herrenberg-Urteil um eine Einzelfallentscheidung, die nicht dazu berechtigt sei, freiberufliche Musiklehrer „unter den pauschalen Generalverdacht der Scheinselbstständigkeit“ zu stellen. Die Rechtsprechung könne nur begrenzt verallgemeinert werden.

Denn wie aus dem Urteil des Bundessozialgerichts hervorgeht, hat dieses auf eine eigene Entscheidung aus dem Jahr 2018 hingewiesen. Damals hatte das Gericht entschieden, dass der freie Dienstvertrag mit einem Gitarrenlehrer keiner Sozialversicherungspflicht unterlag.

Insoweit sieht der Landesverband der freien Musikinstitute Bayern die Entscheidung des Bundessozialgerichts 2022 als Chance, „den durch das Urteil gewonnenen Informationsvorsprung zu nutzen, um die im Urteil genannten Kriterien durch unternehmerische Freiheit und Kreativität entsprechend in die Gestaltung der eigenen und zwar gelebten Verträge einzuarbeiten“.



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