Wie der alte Mösig alle Geschenke übertraf
„Ich will auch mal ein‘ Indi-Aner ausmalen“, bettelte mich meine Cousine Friedericke an. Großzügig gab ich der Dreijährigen das Malbuch und suchte mir ein anderes, in dem Osterhasen noch nicht fertig ausgemalt waren.
Immer am Nachmittag des Heiligabends besuchten meine Eltern aus der fränkischen Kleinstadt Ebern in den nordbayerischen Haßbergen unsere Verwandten, die in Kirchlauter wohnten, einem zwölf Kilometer von uns entfernt liegenden Bauerndorf.
Ich verbrachte dann stets einige herrliche Stunden mit meinen nahezu gleichaltrigen Cousins und Cousinen – meistens in deren Küche, da war am meisten Platz. Die Erwachsenen hielten sich nebenan auf, in der „guten Stube“.
Dramajahr 1963
Ich spreche über eine Zeit aus dem vergangenen Jahrhundert. Das Jahr 1963. Ich war fünf Jahre alt. Es war ein Dramajahr. Das meiste passierte damals wenige Wochen vor Weihnachten: Im Oktober zog sich der Garant für den Nachkriegswohlstand, Konrad Adenauer, nach 14 Jahren aus der Politik zurück und übergab sein Amt als Bundeskanzler an den nicht einschätzbaren Ludwig Erhard.
Auch das Grubenunglück von Lengede sowie das Wunder über die Rettung einiger Überlebenden beherrschte die Nachrichten und Gespräche im Oktober und November. Am schlimmsten von allem aber wurde die Ermordung des jungen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in Dallas, Texas, am 22. November wahrgenommen.
Ich weiß das deshalb, weil ich – ich greife vor – an Heiligabend 1963 ein Polizeiauto unter dem Weihnachtsbaum fand, „um damit den Mörder Kennedys zu jagen“, wie mir meine Eltern mit ernster Miene auftrugen. Was einem als Kind manchmal von Erwachsenen zugemutet wird! Bis heute beschäftigt mich der Kennedy-Mord vor 61 Jahren, als wäre ich selbst dabei gewesen.
Butterbrot mit Zucker und Zimt
„Draußen schneit es, ganz dicke Flocken. Ihr müsst los, wenn ihr nicht eingeschneit werden wollt!“, platzte plötzlich meine Tante aufgeregt in die Küche und unterbrach meine hingebungsvolle Ausmalarbeit.
Auch meine Mutter stürzte herein und nötigte mir in aller Hast meinen dicken Anorak an. Auch die kratzige Wollmütze wurde mir über den Kopf gestülpt. Gleichzeitig schob mir meine Tante noch ein großes Butterbrot, das mit Zucker und Zimt bestreut war, in meine viel zu kleinen Hände – für unterwegs.
Mein Vater hatte draußen im Hof schon den Opel Rekord P2 gestartet. Damals gab es nur zwei Türen am Fahrzeug. Der Beifahrersitz musste noch vorn hochgeklappt werden, damit man nach hinten einsteigen konnte. Für einen Fünfjährigen, mit einer riesigen Scheibe Brot in der einen Hand und einer schief sitzenden Mütze auf dem Kopf, die ein Auge verdeckte, eine zu große Herausforderung.
Natürlich fiel mir beim hastigen Hineinklettern das Brot aus der Hand, und meine Mutter schimpfte noch, dass ich den an den Schuhen haftenden Neuschnee „ins Auto trug“. Ja, wohin denn sonst? Schöne Bescherung am Heiligabend!
Der Mann im Schnee
Kaum gestartet, kämpften die kleinen Scheibenwischer gegen die heftigen Schneeflocken und zogen mühsam Kreisviertel über die Windschutzscheibe. Es war still im Auto. Mein Vater saß sichtlich angespannt hinter dem großen Lenkrad.
Ich saß direkt hinter ihm auf der lederbezogenen Rückbank. Sie war kalt, aber ich wagte nichts zu sagen und kaum zu atmen. Denn wir fuhren eine Steigung hinauf, und der Opel tat sich sichtlich schwer. Nach einer Ewigkeit erreichten wir die Hochebene.
Doch eine neue Herausforderung stellte sich: Hier pfiff der Wind scharf über die Felder rechts und links der Straße, und das Auto wurde ständig von Böen erfasst, die mein Vater mit Gegenlenken aufzufangen versuchte. Eine Schlingerfahrt begann, und die Angst wuchs, dass wir mit dem neuen Wagen im Straßengraben landen würden.
Plötzlich rief meine Mutter: „Halt an, Adam! Da liegt einer!“ Vor Schreck trat mein Vater tatsächlich auf die Bremse, und der Opel fuhr einmal Karussell mit uns. Aber immerhin: Wir blieben auf der Straße. Ohne weiteren Kommentar riss meine Mutter die Beifahrertür auf, stieg aus und rannte gegen den Schnee mit offenem Mantel und wehendem Schal ein Stück zurück.
Der scharfe Wind blies die Flocken durch die Tür ins Auto. Jetzt schien das niemanden zu stören. Auch mein Vater eilte meiner Mutter hinterher, schloss aber immerhin vorher die Türen.
Der Arcimboldo aus Franken
Dann sah ich sie zurückkommen. Mit einem gebeugten alten Mann, der voller Schnee war. Meine Mutter klopfte ständig an ihm herum, stieg dann zu mir auf die Rückbank, während mein Vater die Person auf den Beifahrersitz bugsierte.
Etwas Unhandliches wurde noch nach hinten durchgereicht. Es war ein Jagdgewehr. Und nun erkannte ich ihn. Oh nein! Es war der „alte Mösig“. Der Mösig – so landauf, landab sein Beiname – galt als Kinderschreck im Dorf. Viele Jahre später erfuhr ich erst, dass der Mösig der Waldaufseher der Barone von Guttenberg war, die in Kirchlauter in einem Wasserschloss ansässig sind.
Er war ein Einzelgänger mit einem langen Lodenmantel, einem Filzhut auf dem Kopf und – Moos im Gesicht. Heute würde ich sagen, er sah für unsere Kinderaugen aus wie das Bild „Vertumnus“ von Giuseppe Arcimboldo.
Aber jetzt, wo ich ihn von seitlich hinten so nahe betrachten konnte wie nie zuvor, stellte ich fest, dass das Moos im Gesicht lange Barthaare waren, die durch den Lodenmantel grünlich wirkten. Währenddessen erzählte der Mösig, dass er den ganzen Tag im Wald gewesen und vom Schneesturm überrascht worden sei.
Vom langen Laufe ermüdet, habe er sich nur kurz am Wegrain ausruhen wollen. Erst als ihn meine Mutter unter der Schneedecke hervorzog, sei er wieder wach geworden. Sein aus dem Schnee ragendes Gewehr hatte meine Mutter stutzig gemacht. Ansonsten wären wir an ihm vorbeigefahren und der Mösig wäre damals im Dramajahr 1963 erfroren. Das ist mir heute klarer als damals.
Geschenk vom Christkindla
In Goggelgereuth, einem Dörflein, das bis heute aussieht wie bei einer Märklin-Eisenbahn, machten wir Halt, weil der Mösig dort zu Hause war. Der Schneesturm hatte aufgehört. Der Nachthimmel war plötzlich klar und überschüttet von funkelnden Sternen mit einem riesigen Käselaib-Mond dazwischen.
Kurz vor dem Aussteigen griff der Mösig in seine Manteltasche und wandte sich an mich. Er reichte mir mit seinen steifen, knöchernen Händen etwas in mein Patschhändchen und sagte verschmitzt in seinem schwerfälligen unterfränkischen Dialekt: „Do host awos, Glanner, därägt vom Christkindla. (Hier habe ich etwas für dich, mein Kleiner, direkt vom Christkind.) Fröhliche Weihnachten!“
Aufgewachsen in einer waldreichen Gegend, glaubte ich als Kind stets, das Christkind käme aus dem Wald. Insofern war ich überzeugt, der Mösig habe das Christkind tatsächlich getroffen. Ich traute mich nicht, nachzusehen, um was für ein Geschenk es sich genau handelte, bis wir zu Hause angekommen waren. Erst im Wohnzimmer vor dem mit Lametta behangenen Weihnachtsbaum öffnete ich meine Hand.
Mein Herz berührt
Und siehe da: Es handelte sich um einen saftigen Moosballen, der wunderbar erdig-würzig nach Wald roch; für mich einfach überwältigend. Ja, der Mösig kannte die Wünsche kleiner Jungs besser als alle anderen Erwachsenen: Begeistert legte ich das Moos zu den Schafen an der Krippe.
Denn die hatten bis jetzt noch keine Wiese, sondern standen einfach nur so auf dem Teppich herum. Dieses Geschenk war für mich das Highlight von 1963. Kein Spielzeugauto, kein Pferdchen konnten mithalten. Der Mösig wusste, dass für mich als Fünfjährigen das „Moos vom Mösig“ nicht zu toppen war.
Es blieb noch viele Jahre lang die kleine Wiese für die Schafe, bis es irgendwann zerbröselte. Im Herzen bewahrt habe ich das Moos vom Mösig bis heute.
Ich wünsche auch Ihnen, liebe Leser, ein Weihnachtsgeschenk, das vor allem nachhaltig Ihr Herz berührt. Frohes Fest!
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