Turiner Grabtuch – Ansturm auf ein Stück Stoff
Die einen sehen darauf ganz klar den Leichnam von Jesus Christus mit Spuren der Folter. Sie halten den Stoff für das Tuch, mit dem Jesus nach seiner Kreuzigung begraben wurde. Die anderen meinen, das Tuch stamme aus dem Mittelalter und sei nichts anderes als eine Täuschung der Gläubigen.
Roberto Gottardo hat für beide Verständnis, obwohl der Präsident der für das Grabtuch zuständigen Kommission der Diözese Turin dem ersten Lager zugerechnet werden kann. „Jeder, der sich davor stellt, sieht etwas. Nicht weil er wissenschaftlich recherchiert oder weil er gläubig ist. Sondern weil dieses Bild allen etwas sagt. Das ist das Schöne an dem Grabtuch“, sagt er.
Von Sonntag (19. April) an erwartet die Stadt in Norditalien, wo das Grabtuch seit fast 500 Jahren aufbewahrt wird, wieder einen Massenansturm von Pilgern. Denn die Reliquie, die auf Italienisch „La sacra Sindone“ genannt wird, wird erstmals seit fünf Jahren wieder ausgestellt. Sogar Papst Franziskus will sich das berühmte Stück Stoff Ende Juni im Dom von Turin anschauen.
„So ein Event ist ein großes Stück Arbeit. Aber wir sind bereit für Hunderttausende Pilger“, sagt Bürgermeister Piero Fassino am Mittwoch in Rom bei der Vorstellung des Programms.
Die Wissenschaftler, die Fassino mitgebracht hat, können die Zweifel an der Authentizität des Tuchs nicht wirklich zerstreuen – das wollen sie auch gar nicht. „Jeder hat die Freiheit, seine These zum Ausdruck zu bringen und zu verteidigen“, sagt Enrico Simonato vom internationalen Zentrum für Sindonologie, also für Grabtuch-Wissenschaft. „Aber jede Verteidigung muss die logischen Kriterien der modernen Wissenschaft respektieren, was nicht immer der Fall ist.“
Bisher jedenfalls haben sich massenweise Historiker, Theologen und andere Wissenschaftler vergebens um eine endgültige Klärung der Echtheit des Tuchs bemüht. Der damalige Papst Johannes Paul II. nannte es bei seinem Besuch in Turin im Jahr 1998 „eine Herausforderung für unsere Intelligenz“. Die katholische Kirche selbst nennt das Tuch keine Reliquie, sondern eine Ikone.
Aufwind bekamen diejenigen, die den Stoff wirklich für das Tuch halten, mit dem Jesus bedeckt wurde, als es 1898 zum ersten Mal fotografiert wurde: Auf dem Negativ des Fotos war statt des verzerrten und verblichenen Abdrucks ein wohlproportioniertes, harmonisches Gesicht zu erkennen – fast, als sei das Tuch selbst ein Negativ. Der Gesichtsabdruck eignet sich sogar für die Erstellung von 3D-Simulationen. Für Gläubige ist das ein Beweis, dass das Tuch wundersame Eigenschaften besitzt. Auch die Blutspuren, die entdeckt wurden, haben einige Wissenschaftler für echt befunden.
Gegen die Authentizität des Turiner Grabtuches spricht aber, dass es zum ersten Mal 1357 in Frankreich auftauchte. Von seiner Existenz vor dieser Zeit ist nichts bekannt. 1988 schließlich schien die Radiokarbon-Datierung einer Stoffprobe den Mythos zu versenken: Das Tuch, verkündeten Wissenschaftler aus drei verschiedenen Laboren, stamme aus der Zeit zwischen 1260 und 1390 nach Christus. Für viele Pilger in Turin wird das nicht wirklich eine Rolle spielen – denn ein Mythos beflügelt die Sinne meist mehr als eine Tatsache.
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