Kolumne vom Freischwimmer: Maurice
Früher sahen wir uns oft in Fußballstadien. Er stand dort gelegentlich mit den Fans zusammen, die man gemeinhin als „erlebnisorientiert“ bezeichnen würde. Vielleicht hat er ja auch mal mit anderen Fans gekämpft.
Mit Sicherheit hat er aber im Ausland gekämpft. Als Soldat. Mit einem Auftrag. Lange Zeit in Krisengebieten. Weltweit. Soweit ich das beurteilen kann hat er bisher sein ganzes Leben lang gekämpft. Mal hier und mal da; mal mit und mal ohne Auftrag. Kämpfen halt.
Dann hatte er Urlaub vom Krieg und flog zur Erholung nachhause. Zur Ablenkung und zur Entspannung. Plötzlich fiel er um und zuckte. Aus heiterem Himmel. Einfach umgefallen. Bewusstlos. Zuckend. Die Ärzte diagnostizierten einen epileptischen Anfall. Einen sehr schweren. Sie meinten, dass „es“ jederzeit wiederkommen könnte.
„Nicht nur die körperlichen Schäden, welche durch diesen Sturz zu verzeichnen sind, machen Probleme. Vor allem die seelischen Belastungen sind fast unerträglich“, sagte er bei unserem ersten Telefonat. Er, der Kämpfer, sagte solche Worte.
Da er wusste, dass auch ich früher hier und da ein paar kleinere Problemchen hatte, wollte er meinen Rat. Er wollte von mir wissen, wie ich aus dem „hier und da“ wieder raus gekommen bin.
Wir trafen uns relativ zeitnah und er erzählte mir, dass er aus seinem Wohnort wegziehen will. Ich war erstaunt, wie schnell er zu diesem Entschluss gekommen war. Dieser Ortswechsel sei für ihn sehr wichtig denn er möchte nicht mehr in den alten Strukturen fest hängen. Sagte er. Kämpfen will er auch nicht mehr. Weder für Geld noch im Stadion.
Deshalb bat er den Kostenträger, seine Reha in die Stadt zu verlegen, in der ich wohne. Er will einen totalen Neuanfang. „Und hier kenne ich dich wenigstens schon“.
Ich versicherte ihm, dass ich ihm helfen werde. Um ihn auf komplett andere Gedanken zu bringen, empfahl ich ihm das Buch „Zhuan Falun“ von Li Hongzhi und zeigte ihm beim Stadtrundgang Wohnungsgesellschaften, bei denen er eventuell eine Wohnung bekommen könnte. Auch erzählte ich ihm von Arbeitgebern, von denen ich wusste, dass sie derzeit Angestellte suchen. „Probier es doch mal nach deiner Reha bei denen“, sagte ich.
Als wir uns nach ein paar Wochen wieder trafen, berichtete er mir freudestrahlend, dass er sich im Rahmen seiner Wiedereingliederung einen Praktikumsplatz gesucht hat. Eine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. „Ich will nicht mehr kämpfen“, sagte er, „und ich will den Jugendlichen sagen, dass es sich nicht lohnt, wenn man zu viel kämpft“.
„Wow“, dachte ich, „was für eine Wandlung!“
Sein Praktikum dauerte mehrere Wochen und er legte sich voll ins Zeug. Er engagierte sich total und konnte sich mit seiner neuen Tätigkeit vollends identifizieren. Aufgrund seiner früheren Erfahrungen fand er schnell einen guten Kontakt gerade zu den Jugendlichen, die im Allgemeinen als gewalttätig oder schwierig gelten. Er spricht ihre Sprache und sie verstehen ihn. Von ihm nehmen sie auch einen Rat an. Wahrscheinlich weil er authentisch ist und nicht von oben herab mit ihnen „kommuniziert“.
„Und wie soll es dann weitergehen“, fragte ich ihn bei einem weiteren Treffen. „Ich habe mit der Leitung der Einrichtung gesprochen, in welcher ich gerade mein Praktikum mache. Die sind mit mir sehr zufrieden und würden mich später vielleicht sogar einstellen. Dafür müsste ich aber eine Ausbildung zum Erzieher machen …“
Vor ein paar Tagen rief er mich an und berichtete begeistert, dass er übernommen wird. „Ich habe mir auch schon eine berufsbegleitende Ausbildung gesucht und könnte laut Absprache in meiner jetzigen Einrichtung eine 30-Stunden-Woche absolvieren. Das schaffe ich. Ich bin doch ein Kämpfer…“
Nun hat er tatsächlich einen Arbeitsvertrag unterschrieben und auch schon eine Zusage einer Bildungseinrichtung für eine Ausbildung bekommen. Ich bin beeindruckt!
Eine derartig schwere Lebenskrise zu nutzen, um einmal über sein gesamtes Leben und seine bisherigen Verhaltensmuster nachzudenken, bekommt meine vollste Bewunderung. Viele Menschen würden in einer derart schlimmen Krise nicht den Mumm haben, ihr ganzes Leben einmal auf den Prüfstand zu stellen; sich zu hinterfragen. Die Mehrheit würde wahrscheinlich über ihr Schicksal jammern. Manche würden sich vielleicht sogar aufgeben. Aber Maurice hat nicht nur sein gesamtes bisheriges Verhalten und seine Anschauungen kritisch hinterfragt, sondern er geht auch noch aktiv drauflos und kümmert sich um sein „neues Leben“. Dazu zieht er auch noch aus seiner Heimatstadt weg und ändert sein Umfeld.
Konsequent. Er steckt eben nicht den Kopf in den Sand und macht andere für sein Schicksal verantwortlich. Er wartet nicht darauf, dass ihm irgendwelche Ämter sagen, was er nun machen soll, sondern nimmt sein Leben wieder in die eigenen Hände. In dem Alter noch einmal völlig neu anfangen und die Krise als neue Gelegenheit sehen.
Wow! Alte Verhaltensmuster, Anschauungen und Handlungsweisen überdenken und dann auch noch ändern – das ist bestimmt nicht einfach gewesen. Respekt! Bereits jetzt schon ist Maurice für mich der Held des Jahres.
„Große Veränderungen in unserem Leben können eine zweite Chance sein“. (Harrison Ford)
Und:
„Die größte Entscheidung deines Lebens liegt darin, dass du dein Leben ändern kannst, indem du deine Geisteshaltung änderst“. (Albert Schweitzer)
Ahoi
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