“Das Wunder von Bern” Musical in Hamburg: Ein sensationeller Fußball-Traum mit Zeug zum Klassiker

Titelbild
Foto: Stage Entertainment
Von 24. November 2014

Kann man ein Spielfeld auf einer Bühne unterbringen? Ja, sogar ein ganzes Stadion? Kann man deutscher Nachkriegsgeschichte anhand von Unterhaltungstheater gerecht werden??? Das neue Hamburger Musical “Das Wunder von Bern” beweist: Es geht! Gestern feierte die Produktion von Stage Entertainment im neugebauten “Stage Theater im Hafen” Weltpremiere. Das Publikum war hin und weg von einer Geschichte, die anhand von Fußball erklärt, was wirklich im Leben zählt.

Als nach rund 135 Spielminuten das Stück endlich in Form einer monumentalen, schwarzweißen Kreide-Zeichnung im Berner Wankstadion ankommt, brandet Applaus im Publikum auf und vermischt sich mit dem Lärm von damals zum akustischen Glücksrausch. Wir Nachgeborenen dürfen dabei sein! Was für ein Gefühl!

Wir erleben die entscheidende Phase des WM-Finales von 1954, bei dem Deutschland im strömenden Regen als Außenseiter gegen Ungarn Fußball-Weltmeister wurde und für unsere (Groß)-Eltern eine neue Ära begann: Eine bildgewaltige Theatercollage aus animierter Projektionstechnik und vertikal an der Wand rennenden Artisten. Die Musik verschmilzt mit der Original-Reportage von Herbert Zimmermann, die Tribüne mit dem Spielfeld. Es gibt kein oben und unten mehr, nur mehr die entscheidende 3:2-Situation, die tiefe Wahrheit, dass der Ball rund ist und dass die Filmversion von Sönke Wortmann in dieser Sekunde wirklich niemand mehr interessiert, denn das hier ist LIVE und jetzt! Die letzte, bange Nachspiel-Minute vor dem großen Triumph erscheint als tickende Uhr über den Köpfen. ”Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aaauusss! Deutschland ist Fußball-Weltmeister!!!…” Das Publikum im neugebauten Stage Theater an der Elbe jubelt Chor, Orchester und die brandneue Tonanlage nieder. So ähnlich muss sich das “Wunder von Bern” damals auch angefühlt haben.

Geniale Bühnenadaption des Films

Die Story basiert auf dem Erfolgsfilm von Sönke Wortmann aus dem Jahr 2003, der das “Wunder von Bern” zum Happy End einer dramatischen Vater-Sohn-Geschichte machte. Dem Team um Regisseur Gil Mehmert, Komponist Martin Lingnau und Frank Ramond als Liedtexter gelang es, die Vorlage auf geniale Weise in das neue Genre Musical zu übertragen – samt ihrer vielen inhaltlichen Aspekte. Ein liebevoll gemachtes Bühnen- und Kostümbild, für das sogar die originalen WM-Schuhe von damals nachgefertigt wurden, sorgt für Authentizität und lebenspralle Atmosphäre.

Das Tolle an der Musical-Adaption: Im Heimkehrer-Drama um die Familie Lubanski gibt es keine Beklemmung, wie im Film, keine gramgezeichneten Gesichter, die ihre Konflikte schweigend ausbrüten – die Personen dürfen über ihre Gefühle singen! Das wirkt geradezu heilsam und lebensfroh, auch in den schwierigen Momenten. Und es bringt einem die Geschichte menschlich nahe.

Ein Nachkriegs-Familiendrama

Genial gelöst bereits die erste Szene: Wir sehen Mutter Christa, die seit 12 Jahren auf die Heimkehr ihres Mannes Richard wartet mit den drei Kindern vor dem Abendessen beten – und die Musik erlaubt, jedem, seinen Träumen freien Lauf zu lassen. Da der kleine Matthias seinen Vater nie gesehen hat, betet er einzig darum, das morgen Rot-Weiss Essen gewinnt und dass sein Lieblingsspieler Helmut Rahn in die Nationalelf darf …

Als der Vater wenig später aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkommt, wird es für die Familie richtig hart. Denn der Schwertraumatisierte steht wie ein Fremder im Raum und hat große Probleme, sich an seine Angehörigen und sein neues Leben zu gewöhnen. Seine Frau führt mittlerweile eine eigene Kneipe, sein großer Sohn ist ein Rock´n Roller mit linksradikalen Ansichten geworden und seine Tochter trägt Make-Up und gemalte Strumpfnähte. Das Thema Fußball scheint zwischen ihm und seinem Kleinen alles noch schlimmer zu machen (obwohl es das Gemeinsame sein könnte!) – bis er sich das Auto vom Pfarrer leiht und mit seinem Sohn zum Endspiel nach Bern fährt.

Kleiner Mann ganz groß

Seine Mutter (Vera Bolten) ermutigt Matthias (Riccardo), in einer schweren Zeit doch noch an Wunder zu glauben.Seine Mutter (Vera Bolten) ermutigt Matthias (Riccardo), in einer schweren Zeit doch noch an Wunder zu glauben.Foto: Stage Entertainment

Die Besetzung des neuen Musicals hat keine Stars aufzuweisen, dafür aber Leute, die ideal zu ihren Rollen passen, denn alles dient hier einzig und allein der Story. Detlef Leistenschneider als eiskalter Vater, der langsam und schmerzhaft auftaut, Vera Bolten als leidenschaftliche durchhaltende Mutter,

Marie Lumpp als Tochter, die “einfach nur ein bisschen leben will” und David Jakobs, der hinreißende Rock´n Roll-Szenen hinlegt und auch sonst als großer Bruder wie der Fels in der Brandung steht.

Absolutes Highlight ist jedoch Kinderdarsteller Riccardo als Matthias mit strahlendem Charisma, der stimmlich und schauspielerisch auf der Bühne Star-Präsenz entfaltet und sich den ganzen Abend lang klar als Hauptfigur behauptet! Und das gegen die Fußball-Größen, die außerdem die Herzen des Publikums im Sturm erobern: Dominik Hees als lausbübischer sympathischer Helmut Rahn, kontrastiert vom braven Fritz Walter (Mark Weigel). Weitere sportliche junge Herren mit interessanten Dialekten werden herumkommandiert von ihrem überragend präsentem wie kauzigem Trainer Sepp Herberger. (Michael Ophelders darf viele berühmte Sprüche zelebrieren).

Für Lacher zum Thema Männer, Frauen und Fußball sorgen der gestresste Sportreporter Ackermann (Andreas Bongard) mit seiner charmanten Ehefrau Anette (Elisabeth Hübert), die am Ende mehr Fußball-Durchblick als ihr Gatte hat.

Warum man es gesehen haben sollte

Das “Wunder von Bern” ist ein Glücksfall geworden, bei dem einfach alles stimmt – und das, obwohl es einige dramaturgische Herausforderungen gab: Die Geschichte springt ständig zwischen den Schauplätzen Essen und Schweiz, zwischen Familiendrama und Fußball hin und her, sämtliche deutschen Spiele der WM 54 müssen behandelt werden und das Surfen zwischen den heiteren und vielen tragischen Momenten klappt nahtlos – ja, macht sogar die berührende Glaubwürdigkeit der Geschichte aus. Das Ganze geschieht in Bildern, die bunt, sinnlich und lebensprall sind und keine Angst vor großen Gefühlen haben. Die hochemotionale Musik von Martin Lingnau drängt sich niemals in den Vordergrund, sondern trägt die Geschichte mit Einfühlungsvermögen und atmosphärischer Dichte – und sie findet auch nach den revueartigen Ausreißern und lustigen Show-Momenten immer wieder zu ihrer inneren Ruhe zurück.

Der Abend ist enorm intensiv und dicht erzählt. Unglaublich, was wir in diesen drei Stunden alles erlebt haben, denkt man sich am Ende – ein Roman! Fußball ist darin omnipräsent, aber eigentlich nur als Metapher für das Leben selbst. Auch deutsche Jungs sollten viele Taschentücher dabei haben, wenn sie sich in Hamburg “Das Wunder von Bern” anschauen. Ein Abend, der einen auf positive Weise umhaut…



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