99. Pulitzer-Preis für Literatur für „Alles Licht, das wir nicht sehen“

Titelbild
„Tief bewegend und wunderschön!“ (Janet Maslin, The New York Times)Foto: Cover C.H. Beck Verlag
Von 21. April 2015

Dem Buch „Alles Licht, das wir nicht sehen“ von Anthony Doerr wurde am Montag, 20. April 2015,  in New York der 99. Pulitzer-Preis für Literatur zugesprochen. Ein Weltkriegsroman über die Begegnung eines französischen Mädchens und eines deutschen Jungen hat den diesjährigen Pulitzer-Preis gewonnen.

Tief bewegend und wunderschön!“ (Janet Maslin, The New York Times).

Seit dem 6. Mai 2014 ist die amerikanische Ausgabe, die von der New York Times zum Buch des Jahres gewählt wurde, auf dem Markt und wurde mehr als eine Million Mal verkauft. Die deutsche Version ist seit Dezember 2014 bereits in 3. Auflage erschienen. Bei AMAZON sind fast 8.000 englischsprachige 5-Sterne-Rezensionen erschienen. Eine Sensation.

In Anthony Doerrs Roman geht es um Marie-Laure, ein blindes französisches Mädchen, und Werner, einen deutschen talentierten Waisenjungen aus Essen, der von den Nazis gefördert wird. Im deutsch-besetzten Saint-Malo begegnen sich beide. Doerr, 1973 in Cleveland geboren, wurde für seinen „einfallsreichen und komplexen Roman, der von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs inspiriert ist“, gewürdigt. Er schreibe „in kurzen, eleganten Kapiteln, welche die menschliche Natur und die widersprüchliche Kraft der Technik erkunden“.

Marie-Laure LeBlancs Vater ist in den 1930er Jahren Herr der Schlüssel im Pariser Muséum National d’Histoire. Bei Daniel holen sich die Angestellten ihre Schlüssel für die 12.000 Schlösser des Hauses und liefern sie am Abend wieder ab. Die Förderung seiner erblindeten kleinen Tochter nimmt Daniel mit handwerklichem Geschick selbst in die Hand. Er baut ihr ein maßstabsgetreues Modell ihres Stadtviertels, bietet ihr dazu ein selbst erdachtes Mobilitätstraining und unterrichtet sie in Braille-Schrift.

Marie darf die Artefakte des Museums anfassen und zu manchen bekommt sie von Wissenschaftlern des Hauses Geschichten erzählt. So trainiert das Mädchen schon als Kind alle Sinne, spürt und hört die Umgebung und verfügt über eine ausgeprägte Vorstellungskraft. Marie-Laures größter Schatz ist ihr Blindenschrift-Exemplar von „20.000 Meilen unter dem Meer“ von Jules Verne.

Der Zweite Weltkrieg verschlägt Vater und Tochter 1940 auf der Flucht aus Paris ins von deutschen Truppen besetzte Saint-Malo an der Atlantikküste. Auch hier im Haus seines Onkels baut Daniel für Marie-Laure wieder ein Modell der Stadt, mit dem sie in ihrer Vorstellung ihre Wege draußen vorbereiten kann.

Das verbindende Thema Radiotechnik

In Essen wächst zur gleichen Zeit Werner Hausner in einem Waisenhaus auf, betreut von einer Nonne, die aus dem Elsass stammt und den Kindern einen Bezug zur französischen Sprache vermittelt. Weil Werner bemerkenswertes Verständnis für Radiotechnik zeigt, wird er auf die Eliteschule Napola der Nationalsozialisten nach Schulpforta und anschließend mit gerade 16 Jahren als Experte für das Aufspüren feindlicher Sender in den Krieg geschickt. „Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten, Hausner,“ sagt Werners Physiklehrer.

Die Wege der beiden Jugendlichen streben zunächst auseinander, ein mögliches Zusammentreffen zeichnet sich jedoch schon früh ab durch das verbindende Thema Radiotechnik. Im Haus von Marie-Laures Großonkel Etienne gibt es ein Studio für die Aufzeichnung von Radiosendungen, das noch eine wichtige Rolle im französischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer spielen wird. In einem dritten Handlungsfaden jagt der Diamantenexperte Reinhard von Rumpel als kommandierender Oberst von Saint-Malo einem berühmten Diamanten nach, den er in der Stadt vermutet. Rumpel ist schwer krank und verstrickt sich mit letzter Kraft in eine absurde Kraftprobe um ein Phantom.

Marie-Laure muss inzwischen allein mit ihrem Großonkel Etienne und der Haushälterin zurechtkommen, nachdem ihr Vater Daniel verhaftet und in ein deutsches Lager deportiert wurde. Während die Truppen der Alliierten die Invasion Frankreichs schon vorbereiten, kommt es in der umkämpften Stadt zur schicksalhaften Begegnung zwischen Werner und dem blinden Mädchen.

Die Neuentdeckung der Langsamkeit

Mit seinem atmosphärisch beeindruckenden Roman gelingt Anthony Doerr die Neuentdeckung der Langsamkeit. Als Leser ist man gezwungen, den eigenen Umgang mit Zeit dem Tempo der Figuren in einem vergangenen Jahrhundert anzupassen. Vater und Tochter begeben sich zu Fuß auf die Flucht nach Saint-Malo; an anderer Stelle muss man sich mit Marie-Laure gedulden, bis der Vater genug Geld gespart hat, um ihr wieder ein Buch in Punktschrift kaufen zu können.

Indem Doerr (selbst erst fast 30 Jahre nach Kriegsende geboren) beide Jugendlichen in einer Ausnahmesituation aufwachsen lässt, nimmt er sich die Freiheit, den Alltag in Deutschland und Frankreich nach eigener Vorstellung zu gestalten. Die Fülle historischer Details wirkt nicht immer authentisch und der Perspektivwechsel ins Europa eines anderen Jahrhunderts gelingt Doerr nicht vollständig. So kann ich mir u. a. im Jahr 1940 einfach keinen Reisenden mit zwei farblich zusammenpassenden Kunststoffkoffern vorstellen. Aber das sind Kleinigkeiten.

„Alles Licht, das wir nicht sehen“ wirkt sehr direkt und anrührend durch die Einzelschicksale der jungen Protagonisten. Werner in der Rolle des unentbehrlichen Technikers, der schon als Schüler das System infrage gestellt hat, ihm aber dennoch dient, vermag in idealer Weise vermitteln, warum die Menschen in jener Zeit handelten, wie sie es taten. Als Werner Zeuge wird, wie Wehrmachtssoldaten im Winter einem Gefangenen die Schuhe wegnehmen und er das als Todesurteil für den Mann erkennt oder Marie-Laures geduldiges Warten auf die Rückkehr ihres Vaters aus der Haft können nachhaltiger und schonungsloser berühren als nackte Zahlen über Kriegsopfer das erreichen würden. Mit dem Zusammenführen der Handlungsfäden 30 Jahre und noch einmal 60 Jahre nach Kriegsende zeigt Anthony Doerr sich als Meister des Wortes.

Ein Roman, in dem man lebt, von dem man lernt, um den man trauert, wenn man die letzte Seite gelesen hat“. (Brad Hooper, Booklist).

Foto: Cover C.H. Beck Verlag

Anthony Doerr

Alles Licht, das wir nicht sehen

528 Seiten

Verlag: C.H.Beck;

ISBN-10: 3406667511

€ 22,95



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