Alpen: Der Kultur des Verzascatals Stimme und Zukunft geben

Christian Besimo wuchs in Zürich auf. Doch die Verbindung zum Heimattal seiner Vorfahren blieb. Mit Herz und Verstand arbeitet er seit Jahren für die Zukunft des Val Verzasca und erkundet seine vielschichtige Vergangenheit.
Titelbild
Steinerne Zeitzeugen und gefahrvolle Arbeit. Monte Revöira am Fuss der Föpia. Auf den weiss verschneiten Grasbändern in der Südwestwand wurde in den Sommern bis Mitte des letzten Jahrhunderts Wildheu eingebracht.Foto: Christian Besimo
Von 30. Juni 2024

„Was willst du mit dieser Geschichte von Hunger und Armut?“, sagt Christian Besimos Vater zum 19-Jährigen im Jahr 1976. 
Der Sohn hat begonnen, das Tal seiner Vorfahren im Tessin für sich zu entdecken. Das Tessin, aus dem sein Großvater aus Hunger, Not und Perspektivlosigkeit nach Zürich ausgewandert war.

In Christians Kindheit und Jugend herrscht weitgehend Schweigen über die Zeit vor dem erfolgreichen Neubeginn in Zürich. In der Familie wird kaum über das Leben im rauen und unwirtlichen Tal gesprochen, das sie hinter sich gelassen hat.

Christian macht es jedoch nachdenklich, dass der Großvater – obwohl in Zürich eingebürgert – das Bürgerrecht im Tal seiner Vorfahren niemals aufgegeben hat.



 „Mir wurde immer mehr bewusst, dass ich selbst völlig wurzellos war“, erinnert sich Christian Besimo heute.

Christian Besimo heute, auf einer seiner vielen Wanderungen durch das Verzascatal. Foto: Christian Besimo

Schon als Schüler hilft er in den Ferien Bergbauern beim Heueinbringen und Viehhüten. Schon damals spürte er eine große Verbundenheit mit den Menschen und deren kargem Leben in den Bergen.

Zurück zu den Wurzeln

Die Sehnsucht, die verschütteten Wurzeln der eigenen Familie zu ergründen, wird immer drängender. Sie mündet in der Entscheidung, möglichst viel Zeit in der wilden Landschaft des Verzascatals zu verbringen.

„Mein Vater hat das akzeptiert, aber nie wirklich verstanden“, erinnert sich Christian Besimo. „Er war einfach noch zu nahe dran an der Vergangenheit.“

Im Gespräch mit Christian Besimo spürt man, dass für ihn wahrhaftiges Forschen und Suchen eine echte Herzensangelegenheit ist. 
So berichtet er, dass er nie dem Phantombild vom wildromantischen, urigen Tessiner Tal nachgejagt habe. Er will der unverstellten Wahrheit auf die Spur kommen – in ihrer Härte und Kargheit, aber auch in ihrer herben, archaischen Schönheit.

Was Christian Besimo von Anfang an sucht, ist der realistische Blick auf Alltag und Kultur im Tal, wie sie noch vor hundert Jahren als selbstverständliche Wirklichkeit gelebt wurden.

Doch wie die Mühen und Leistungen früherer Generationen angemessen würdigen? Wie ihr wertvolles, oft vergessenes Wissen und Können wieder sichtbar machen und vor dem Vergessen bewahren?

Tatkräftige Forschung

In Zürich studiert Besimo in den 80er-Jahren Zahnmedizin, arbeitet und lehrt bald an der Uni Basel.
 Gleichzeitig jedoch wird er für sein Heimattal zum kenntnisreichen Ethnografen, einfühlsamen Zeichner, Fotografen, Wanderführer, Entdecker und Autor.

So legt er heute – gemeinsam mit tatkräftigen Mitstreitern – alte, überwucherte Verbindungswege frei.

Mitten im Dickicht: Auf der Suche nach alten Wegen in der Val Porta, einem Seitental der Verzasca. Foto: Christian Besimo

Über Jahrhunderte hinweg sind sie im steilen Gelände unter großen Mühen und Entbehrungen entstanden – in meist erstaunlich direkter und schwindelerregender Wegeführung.

Denn, so berichtet Christian Besimo, das harte Tagwerk der Bauern und Hirten habe keine Umwege erlaubt.

Scarèta Longa, die „lange Treppe“, die in der Val Porta eine hohe Felsstufe überwindet. Über 900 Höhenmeter führen sie und weitere trocken gemauerte Treppen zu einer großen – aus mehr als 80 Gebäuden bestehenden – Maiensiedlung hinauf. Foto: Christian Besimo

Wie die alten befestigten Pfade, so dokumentiert Besimo auch die archaisch kraftvollen Gebäude durch Kartierungen, in Zeichnungen und Fotografien.

Zeichnung eines alten Wohnhauses in Tòrbora, einem Dorfteil von Frasco. Typisch sind die Außentreppen zu den Obergeschossen und ihren Lauben. Zeichnung: Christian Besimo

Auch sie bestehen aus dem Gestein des Tales. Gespaltener grauer Gneis ist in ihnen zu massivem Trockenmauerwerk geschichtet. Die stabilen Dachstühle aus heimischem Kastanien-, Lärchen- oder Fichtenholz sind mit Steinplatten aus Gneis bedeckt. Auf jeden Quadratmeter der Dachfläche wirkt etwa eine halbe Tonne Gestein ein und stabilisiert das Dach durch sein ungeheures Eigengewicht selbst.

Blick auf Steindächer von Heuställen in Revöira. Foto: Christian Besimo

Kriminalistik im Gelände

Nicht selten sind für die Freilegung der Wege, die Kartierung und Dokumentation von Gelände und Bauten geradezu kriminalistische Fähigkeiten nötig, berichtet Christian Besimo.

Sind diese flachen Steine Teil eines Weges oder liegen sie nur zufällig an dieser günstigen Stelle? Wie genau wurden die Bauwerke einst genutzt? Waren sie geschützte Feuerstellen, Wohnstatt, Stall, Käserei, Heuboden oder wurden in ihnen diese und weitere alltägliche Nutzungen pragmatisch und kreativ vereint?

Auf den ersten Blick kaum zu erkennen: schmaler Eingang zum Käsekeller unter dem Heustall. Foto: Christian Besimo

 

Steinerne Halterungen für den Herdgalgen auf dem Heuboden beweisen, dass das Gebäude als Käserei und Küche Verwendung gefunden hat. Geschlafen wurde im Heu. Foto: Christian Besimo

Besimo erzählt, dass im lombardischen Dialekt, den man auch heute noch in abgeschwächter Form im Verzascatal spricht, das Lebensgefühl, das im Tal noch vor hundert Jahren herrschte, mit „Füm, Fam e Frecc“, beschrieben wird.
 Kurz und knapp bedeutet der Wortdreiklang nichts anderes als „Rauch, Hunger und Kälte“.

Harter Alltag, lebensnotwendige Lösungen

Der beißende Rauch der wärmenden Feuer entwich durch Wandschlitze der bis ins 19. Jahrhundert meist kaminlosen Wohnhäuser nur langsam. Bitterer Hunger erwartete die Menschen, wenn sie durch Missernten, Tierkrankheiten oder Unglücksfälle in Not und Elend gerieten. Wind und Kälte kroch durch Mauerwerk und Kleidung.

Und doch harrten die Menschen über Jahrhunderte hinweg arbeitsam und tapfer im schmalen, von hohen Bergketten umstanden Tal aus. 

Über Generationen hatten sie – allen Hindernissen und Gefahren zum Trotz – Wege erkundet und gefunden, ihre Heimat urbar zu machen.

Blick von der Föpia auf den 1.300 Meter tiefer gelegenen Talboden der Verzasca. Foto: Christian Besimo

Auf und Ab im Rhythmus der Jahreszeiten

Aus den natürlichen Klimaschwankungen der Jahreszeiten, der Topografie der Landschaft und ihrer Vegetation erwuchs durch Versuch und Erfahrung eine einzigartige Vielstufenwirtschaft.

In dieser besonderen Form der Bewirtschaftung wanderten die Familien des Tales als Halbnomaden von Höhenstufe zu Höhenstufe. 

Denn nur durch Beweglichkeit und Zusammenhalt war das Leben und Überleben zu meistern.

So arbeiteten die meist kinderreichen Familien abwechselnd in Weinbergen und Kastanienselven, auf Feldterrassen und Wildheuwiesen, in den sogenannten Maien- und noch höher gelegenen Alpsässen.

Rozzera, eine Maiensiedlung im Felsenrund der Cresta della Föpia. Foto: Christian Besimo

Auf den Maienweiden des Frühlings und den Alplagen des Sommers entstanden so Ansiedlungen weit über den Dörfern im Tal, die nur temporär bewohnt wurden.

Standen durch die zerklüftete Topografie oft nur kleinflächige, magere Nutzflächen zur Verfügung, so glich die Wanderschaft von Mensch und Tier zusammen mit der klug und pragmatisch angepassten Wirtschaftsweise so manch landschaftliche und klimatische Nachteile aus.


 Dennoch blieb der Alltag hart, entbehrungsreich und riskant.

Gefahrvolles Leben, innige Frömmigkeit

Unvorstellbar scheint uns heute zum Beispiel die Tatsache, dass auf den Grasbändern steiler Felswände sogenanntes Wildheu von Hand geerntet wurde. Mehr als 3.000 Tonnen dieser unverzichtbaren Futterreserve für die langen Winter des Verzascatals schnitten wagemutige Jungen und Männer mit kleinen Handsicheln unter Gefahr für Leib und Leben.

Cappella del Calvario am Eingang der Val Porta. Der Kalvarienberg auf dem Fresko in Form eines Heuhaufens erinnert mit seinen drei Kreuzen auch an drei Brüder, die beim Wildheuen den Tod gefunden haben. Sie hatten in einem Heuhaufen vor einem Gewitter Schutz gesucht und verloren dort durch Steinschlag ihr Leben. Foto: Christian Besimo

Die Konfrontation mit der Unberechenbarkeit der Natur, mit Gefahr und Tod, aber auch die Bewunderung für die Schönheit der Schöpfung ließ im Tal eine innige, tröstende und stärkende Religiosität wachsen.

Kirchen, Kapellen und Fresken in den Orten und am Wegesrand erzählen von gelebter, in den Alltag fest verwobener christlicher Frömmigkeit.

 Sie gibt den Menschen im Tal auch seelisch die Kraft, ihren Alltag zu bestehen.

Abgesang und Neubeginn

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs öffnete sich das Val Verzasca jedoch endgültig zur sich immer rasanter modernisierenden Welt. Selbstversorgung und Vielstufenwirtschaft verlieren immer mehr ihre ausschließliche Notwendigkeit. 
Maien- und Alpensiedlungen werden verlassen, von der Natur zurückerobert und beginnen langsam zu verfallen.

Doch knapp dreißig Jahre später zieht es einen jungen Züricher zurück ins Tal seiner Vorväter. 

Christian Besimos zeigt, was die Sehnsucht eines Einzelnen bewegen kann, wenn sie sich zu konkretem und umsichtigem Handeln wandelt.

Willkommen im Val Verzasca

Vom 26. Mai 2024 bis zum 18. Mai 2025 ist im Museo di Val Verzasca
 eine inspirierende Ausstellung 
zur Forschungsarbeit von Christian Besimo zu sehen. Einen ersten Einblick gibt es auf museovalverzasca.ch.

Christian Besimos führt gern interessierte Besucher durchs Tal, seine Publikationen und aktuellen Termine für geführte Wanderungen durch das Verzascatal sind unter 
verzasca-etnografica.ch zu entdecken. Besucher des Tales finden in der Albergo Difusi in Corippo 
faszinierende Übernachtungsmöglichkeiten in typischen, sorgsam restaurierten Gebäuden.

Titelbild des Erzählbandes „Die Kraft der Düra“. Der schwindelerregende, ehemalige Alpweg zwischen Agro und Cremenzè. Foto: Christian Besimo

Sein Erzählband „Die Kraft der Düra“, Edition Bücherlese, Hitzkirch 2017, ISBN: 978-3-906907-04-8 vereint seine Erfahrungen und Begegnungen aus 45 Jahren des Forschens und Suchens.

 



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