Kindeswohlgefährdungen: Steigerung in den letzten zehn Jahren um 63 Prozent

Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen ist auf einen neuen Höchststand angewachsen. Besonders stark ist der Anstieg in Mecklenburg-Vorpommern. Die dortigen Jugendämter haben im vergangenen Jahr seit 2012 die meisten Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung eingeleitet. Bestätigt hat sich der Verdacht bei 30 Prozent der Fälle.
In der Familie nicht sicher: Häufig stehen bei sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Opfer und Täter in einem verwandtschaftlichen Verhältnis.
Alarmierende Steigerung: Immer mehr Fälle von KIndeswohlgefährdung.Foto: Annette Riedl/dpa
Von 17. November 2023

Das Land Mecklenburg-Vorpommern vermeldet: Im Jahr 2022 wurden etwa 600 Verfahren mehr als im Jahr 2021 durchlaufen, basierend auf von den Jugendämtern der Landkreise und kreisfreien Städte durchgeführten Gefährdungseinschätzungen nach § 8a des SGB VIII, Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. „Das entspricht einer Steigerung um rund 13 Prozent zum Vorjahr. Dabei betrafen die Verfahren fast exakt zu gleichen Anteilen weibliche und männliche Kinder und Jugendliche (bis unter 18 Jahren).“

Bei 30 Prozent der Fälle Kindeswohlgefährdung bestätigt

Bei 43 Prozent der eingeleiteten Verfahren lag nach Abschluss keine Kindeswohlgefährdung, dafür aber ein erzieherischer Hilfebedarf vor. Bei knapp 27 Prozent endeten die Verfahren ohne Feststellung einer Kindeswohlgefährdung oder eines Hilfebedarfs.

Kindeswohlgefährdung wurde bei den über 5.000 eingeleiteten Verfahren in Mecklenburg-Vorpommern bei etwa 30 Prozent bestätigt. Das ist eine Steigerung von etwa 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dabei sind Anzeichen von Vernachlässigung die häufigste Form von Kindeswohlgefährdungen, gefolgt von Hinweisen auf psychische und körperliche Misshandlungen.

Wobei der Trend nicht flächendeckend ist. So meldet die Ostseezeitung trotz Corona weniger Kindeswohlgefährdungen in Nordwestmecklenburg.

Wann liegt Kindeswohlgefährdung vor?

Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine aktuelle oder unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.

Kindeswohlgefährdung kann verschiedene Aspekte umfassen, zum Beispiel Vernachlässigung. Darunter ist zu verstehen, wenn Eltern oder Erziehungsberechtigte die grundlegenden Bedürfnisse eines Kindes nicht angemessen erfüllen, wie Nahrung, Unterkunft, medizinische Versorgung, Bildung und emotionale Unterstützung. Oft kann es dazu kommen, wenn die Erziehungsberechtigten Alkohol oder Drogen missbrauchen.

Körperliche Misshandlung beinhaltet physische Gewalt, die einem Kind zugefügt wird, wie Schläge, Tritte, Verbrennungen oder andere Verletzungen. Dazu zählt auch Belästigung eines Kindes, sexueller Missbrauch und die Verbreitung von Kinderpornografie. Hinzu kommen emotionale oder psychische Misshandlung wie einschüchterndes Verhalten, Demütigungen oder das Zeigen von Missachtung gegenüber dem Kind. Wenn ein Kind häusliche Gewalt zwischen seinen Eltern oder anderen Familienmitgliedern miterlebt, kann dies ebenfalls als Kindeswohlgefährdung gelten.

Polizeieinsatz im Havelland endet tödlich

Während der Corona-Zeit gab es allerdings zahlreiche Eltern, die ihre Kinder wegen angeordneter Maßnahmen wie Tests und Masken nicht in die Schule geschickt haben. Auch in diesen Fällen konnten Jugendämter wegen „Kindeswohlgefährdung“ einschreiten.

Erst vor wenigen Tagen endete im havelländischen Dorf Vieritz ein Polizeieinsatz wegen möglicher Kindeswohlgefährdung mit dem Tod des Vaters. Dem dortigen Jugendamt „lag ein Herausgabebeschluss des Kindes an den Amtsvormund vor, der aufgrund der Gewaltbereitschaft des Vaters in Abstimmung mit der Polizei umgesetzt werden sollte“, so die Sprecherin des Landkreises. Laut Informationen der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ weigerte sich der Vater, den Sohn zur Schule zu schicken.

Deutschlandweiter Trend

Mit der alarmierenden Steigerung spiegelt das Land Mecklenburg-Vorpommern eine größere Entwicklung wider. Auch deutschlandweit vermeldet das Statistische Bundesamt (Destatis) einen neuen Höchststand mit 62.300 Kindeswohlgefährdungen in 2022. Das sind 4 Prozent mehr Fälle als in 2021, darunter 10 Prozent mehr akute Kindeswohlgefährdungen im Vergleich zum Vorjahr.

Geprüft hatten die Jugendämter im Vorfeld insgesamt deutschlandweit 203.700 Hinweismeldungen, bei denen der Verdacht auf eine mögliche Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen im Raum stand, hier ist eine Steigerung der Hinweise zum Vorjahr von 3 Prozent zu verzeichnen.

Steigerung in den letzten zehn Jahren um 63 Prozent

Auch langfristig hat sich die Zahl der Kindeswohlgefährdungen erhöht: In den letzten zehn Jahren, von 2012 bis 2022, betrug der Anstieg 63 Prozent. Dabei nahmen die Fallzahlen von 2017 bis einschließlich des ersten Corona-Jahres 2020 besonders kräftig zu – und zwar jährlich um 9 bis 10 Prozent. Die Hinweise von Polizei und Justiz haben sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht.

Besonders gestiegen sind in 2022 die Inobhutnahmen. Hier gab es deutschlandweit mit 17.300 Fällen einen Anstieg um 40 Prozent, wie Destatis mitteilt. Hauptgrund: unbegleitete Einreisen aus dem Ausland. Demnach nahmen die Jugendämter in Deutschland in 2022 über 66.400 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut. Bereits im Jahr wurde eine Steigerung um 5 Prozent verzeichnet. Hauptgrund für den Anstieg war in beiden Jahren ein wachsendes Aufkommen an unbegleitet eingereisten Minderjährigen aus dem Ausland: während jedoch die Zahl der Inobhutnahmen aus diesem Grund im Jahr 2021 lediglich um 3. 700 Fälle zugenommen hatte, was ein Plus von 49 Prozent zum Vorjahr ausmacht, stieg sie im Jahr 2022 um 17.300 Fälle, also um 153 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Immer mehr unbegleitete Kinder aus Syrien und Afghanistan

Schon ab 2015 schnellten die Fallzahlen durch das Aufkommen an unbegleitet eingereisten Minderjährigen in die Höhe. Seinerzeit wurde der Höchststand im Jahr 2016 mit rund 84.200 Inobhutnahmen erreicht, darunter waren rund 44.900 Fälle nach unbegleiteten Einreisen. 2021 setzte ein erneuter Anstieg ein, der nun im Jahr 2022 zu 28.600 Inobhutnahmen nach unbegleiteter Einreise führte.

Aus dem aktuellen „Bericht der Bundesregierung über die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland“ geht hervor, dass die meisten unbegleitet eingereisten Minderjährigen in den Jahren 2021 und 2022 aus Afghanistan und Syrien kamen. Dem Bericht nach spielte die Ukraine im Jahr 2022 als Herkunftsland offenbar eine eher untergeordnete Rolle.

 



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