Kindern Moral beibringen: „Schwarze Pädagogik“ oder konsequente Erziehung?

Weniger Regeln, mehr Freiraum: Heute legen viele Eltern großen Wert auf die Selbstbestimmung ihrer Kinder. Früher waren es Moral und Disziplin, die im Mittelpunkt einer „guten Erziehung“ standen. Eine Debatte, die die Gemüter erhitzt.
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Gemeines Familienessen. Symbolbild.Foto: iStock
Von 18. August 2023

Ab dieser Woche darf die 3-jährige Mia selbst entscheiden, wann sie ins Bett geht. Kein Weinen, kein Machtkampf, kein nächtliches Drama mehr um die Schlafenszeit, hofft Mama Leoni. Außerdem soll Mia auf diese Weise lernen, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu hören. Wenn sie müde ist, geht sie schlafen. Wenn nicht, darf sie im Zimmer spielen, so sind die neuen Regeln bei Familie Bucher.

Selbstbestimmtes Einschlafen heißt diese Erziehungsmethode. Bei Oma, Opa und einigen Mama-Freundinnen kommt das neuartige Schlafkonzept jedoch gar nicht gut an. Sie halten es für einen „großen Fehler“.

Mit dieser Reaktion hatte Leoni Bucher gerechnet. Und doch löst die Kritik bei ihr eine Welle der Unsicherheit aus. Wie so oft kämpft sie mit dem Gedanken, ihrer Rolle als „gute Mutter“ nicht gerecht werden zu können. Und damit steht sie nicht allein.

Grenzen setzen, aber wo?

So wie Mias Mutter geht es vielen Müttern. Viele junge Eltern fühlen sich unsicher im Umgang mit ihren Kindern. Es gibt viele Fragen, aber selten eine klare Antwort. „Was darf mein Kind und was nicht? Wo soll ich Grenzen setzen? Habe ich angemessen reagiert? Wie kann ich mein Kind auf seine Zukunft vorbereiten?“

Seit jeher müssen sich Generationen von Müttern und Vätern mit diesen oder ähnlichen Fragen auseinandersetzen. Eine allgemeingültige Antwort gibt es nicht. Jede Epoche und jeder gesellschaftliche Umschwung prägen das Verständnis von Familie und die Sicht auf das Kind. Zum Beispiel wird in der heutigen Erziehung viel Gewicht auf die Individualität des Kindes gelegt. Früher war es den Eltern wichtig, ihre Kinder zu gesellschaftsfähigen Bürgern zu erziehen. Es ging also vorrangig um das gesellschaftliche Zusammenleben.

Wie hatten wohl Mias Urgroßeltern oder deren Vorfahren die Kindererziehung und Rituale wie das Zubettgehen gesehen? Wer heute versucht, die Erziehungsmethoden seiner Vorfahren zu verstehen, bekommt nicht selten ein düsteres Bild vermittelt. Häufig ist von „Schwarzer Pädagogik“ die Rede – einem Erziehungsstil geprägt von Gewalt, Autorität und Kaltherzigkeit.

Doch war das wirklich so? Ein Handbuch aus dem späten 19. Jahrhundert gibt Aufschluss darüber. Der Autor John H. Young hat eine Reihe von Texten und Briefen aus der Zeit um 1880 zusammengestellt, die einen tiefen Einblick in das damalige Verständnis von „guter Erziehung“ gewähren. Und diese beginnen mit dem Verhalten und den Gewohnheiten der Eltern.

Eltern als Vorbilder

Schon früh hatte man damals erkannt, dass Kinder vor allem durch Nachahmungen lernen. So wurde den Eltern geraten, stets auf ihr Verhalten und ihre Sprache zu achten.

Ein Beispiel aus dem Erziehungshandbuch jener Epoche: Wenn Kinder hören, wie ihre Eltern schlecht über andere reden, würden sie dieses Verhalten sehr wahrscheinlich übernehmen. Möchten Eltern, dass ihre Kinder Nachsicht gegenüber anderen zeigen, dann müssten sie selbst dieses Verhalten vorleben. Wollen sie, dass ihre Kinder glücklich und zufrieden sind, so müssten sie selbst Fröhlichkeit und Zufriedenheit ausstrahlen.

Freundliche Worte und ein liebevoller Umgang seien echte Liebesbeweise, die in der Familie unverzichtbar sind. Diese Ratschläge an die Eltern lassen aufhorchen, denn hier steckt mehr drin als nur „Schwarze Pädagogik“.

Auf die Moral kommt es an

Es wurde offensichtlich viel Wert auf die moralische Erziehung gelegt. Und Moralentwicklung ist mitunter eine Frage der Gewohnheit. Erlernte Gewohnheiten beeinflussen schließlich das Leben und den Charakter des Kindes – zum Guten oder zum Schlechten. Daher heißt es in dem Erziehungsratgeber: Es sei das Hauptziel der Erziehung, gute Gewohnheiten in den eigenen vier Wänden zu etablieren.

Gute Gewohnheiten seien jene, die dem Kind ein starkes Pflichtbewusstsein vermitteln und es lehren, seine Emotionen zu kontrollieren. Man glaubte, so könnten die Heranwachsenden negativen Einflüssen besser widerstehen. Auch die Einhaltung bestimmter Prinzipien und Regeln würde jenen Kindern leichter fallen, die Struktur und Disziplin aus dem Elternhaus mitbekommen haben.

Zum Beispiel sollten sich Kinder an bestimmte Tischmanieren halten. Hat ein Kind eine Aufgabe aufgetragen bekommen, sollten die Eltern dafür sorgen, dass es diese Arbeit konsequent bis zum Ende ausführt. Wichtig sei auch, dass es nicht zwei unterschiedliche Verhaltensregeln geben darf – eine für zu Hause und eine andere in der Öffentlichkeit. Anders gesagt, die festgelegten Regeln sollten für das Kind an jedem Ort gelten.

Zwischen Disziplin und Selbstbestimmung

Würde Familie Bucher nach diesem Erziehungsstil handeln, würde es für Mia wohl bedeuten, dass eine feste Routine für die Schlafenszeit eingeführt und durchgesetzt wird. Konkret könnte es heißen: 19:30 Uhr gibt es eine Gutenachtgeschichte, danach ein wenig kuscheln und 20:00 Uhr ist Nachtruhe.

Tatsächlich sieht die Einschlafroutine heute bei vielen Familien so aus. Aber bei Mia brachte dieses Ritual nicht die ersehnte Nachtruhe. Alle fünf Minuten kamen Mama-Rufe aus dem Kinderzimmer. Auf einmal musste sie drei-, viermal auf die Toilette, hatte ganz viel Durst oder „Flummi-Hase“ ist heruntergefallen.

Früher hätten Eltern in dieser Situation mit Strenge reagiert. Um Kinder zu disziplinieren, wurden häufig auch Strafen angewendet. An dieser Stelle würden viele Eltern heute protestieren.

Kinder zu Disziplin zu erziehen wird generell kritisch gesehen. Einige sprechen in diesem Zusammenhang von „Unterdrückung der Individualität“ des Kindes. Denn sie müssten ihre eigenen Wünsche zurückstellen und sich an den Bedürfnissen der Erwachsenen orientieren.

Eltern, die auf Selbstbestimmung ihrer Kinder setzen, nehmen ihr Kind von Anfang an als kompetent wahr, dessen Fähigkeiten nicht durch Fremdbestimmung untergraben werden dürften.

Andere argumentieren wiederum, dass gerade diszipliniertes Verhalten Kinder dazu befähigen würde, ihre selbst gesteckten Ziele im Leben mit Standhaftigkeit zu erreichen.

Gute Erziehung: Ein gesellschaftlicher Beitrag

In welche Richtung die heutige Disziplin-Debatte auch geht – am Ende gibt es doch einen Konsens. Es geht um das Kind als Individuum. Das war vor zwei Jahrhunderten jedoch nicht unbedingt der Schwerpunkt der Erziehung.

Früher wurde viel Wert auf die Tugenden der Höflichkeit und des Respekts gelegt. In dem Erziehungshandbuch heißt es: „Wenn die äußeren Formen der Höflichkeit innerhalb der Familie missachtet werden, führt dies unweigerlich zu ständigen Streitigkeiten und Auseinandersetzungen. Unhöflichkeit ist eine ständige Quelle von Reibereien.“

Auch in der beruflichen Erziehung wurde der Mensch als gesellschaftliches Wesen betrachtet. Der ehemalige Jurist und Kanzler von New York schrieb in der Zeit zwischen 1826 und 1830:

„Wenn Eltern ihr Kind ohne irgendeine Form der Ausbildung ins Leben schicken […], dann schaden sie nicht nur ihrem Kind, sondern auch der Gesellschaft und der eigenen Familie. Denn so geht der Gemeinschaft ein potenziell wertvoller Bürger verloren. Umgekehrt leisten Eltern, die ihr Kind gut ausbilden lassen und ihm Selbstwertgefühl vermitteln, einen wertvollen gesellschaftlichen Beitrag.“

Maxime der Kindererziehung

Kinder als Teil der Gesellschaft – diese Sichtweise steht keinesfalls im Widerspruch zu dem Verständnis, dass Kinder ihre Persönlichkeit haben, die es zu respektieren und zu fördern gilt. So wurde den Eltern damals folgender Umgang mit ihren Kindern ans Herz gelegt:

Prinzipiell sollten Kinder wie „kleine Erwachsene“ behandelt werden, auch wenn sie kindliches Verhalten zeigen. Offenbar war gemeint, dass man Kinder ernst nehmen soll. Der Umgang mit ihnen sollte freundlich und stets bedacht sein. Denn alles, was man sage und tut, hinterlasse einen Eindruck. Das gelte auch für die Wahl der Kleidung.

Eltern sollten ihre Kinder zudem nicht „auf Verdacht“ tadeln, ohne die ganze Situation zu verstehen. Auch sei es nicht angebracht, Kinder vor der Anwesenheit anderer Menschen hart zu kritisieren oder sich über ihre Fehler lustig zu machen.

Ein weiterer Ratschlag war, niemals einem Kind zu sagen: „Ich glaube dir nicht.“ Hat man Zweifel an dem Gesagten, sollte man diese zunächst für sich behalten. Es sei besser, geduldig abzuwarten. Was wahr oder falsch sei, werde sich mit der Zeit zeigen.

Die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern sollte auf Respekt basieren. Dazu gehörte, einem Kind unmittelbar zuzuhören, wenn es spricht. Damit vermeide man, dass das Kind wiederholt nach Aufmerksamkeit ruft. Gleichzeitig lerne es, den Erwachsenen sofort zuzuhören, wenn diese sprechen.

Eine positive und harmonische Tischkultur wurde besonders geschätzt und angestrebt. Kinder sollten am Tisch fröhlich lachen und plaudern dürfen. Streitthemen, vor allem politische oder religiöse, haben nicht an den Esstisch gehört. Die Gesprächsthemen sollten spannend oder unterhaltsam sein. Denn der Familientisch sollte ein Ort voller guter Erinnerungen sein.

Mia genießt die Aufmerksamkeit

Gemeinsames Abendessen wird auch bei Familie Bucher regelmäßig gelebt und gepflegt. Mia genießt die Aufmerksamkeit und die Zeit mit Mama und Papa am Tisch. Selbstständiges Essen mit Gabel und Messer klappt mit viel Übung ebenfalls sehr gut. Und wenn die Kleine ihren Spaghetti-Teller leer geputzt hat und fröhlich über ihre eigenen Witze lacht, weiß Mama Leoni, dass sie doch nicht alles falsch gemacht hat.

Nur mit dem Schlafengehen danach funktioniert es noch nicht ganz so gut. Zumindest aber ist allen der Druck genommen, seitdem Mia selbst bestimmen darf, wann sie schlafen geht. Vorerst. Denn es ist inzwischen 22:30 Uhr – und bei den Buchers brennt im Kinderzimmer immer noch das Licht.

Ein Familienritual im 19. Jahrhundert. Ein Mann liest seiner Großfamilie aus einem Buch vor. Foto: Kean Collection/Getty Images



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