Gibt es eine wortlose Sprache? Psychologin sagt Ja
Viele Reisende haben es in ihrem Urlaub bereits erlebt: Obwohl sie die Sprache vor Ort nicht erlernt haben, können sie sich mit den Einheimischen über Mimik und Gestik verständigen. Egal ob Amerika und Asien, Europa oder Afrika – diese Methode scheint losgelöst von den jeweiligen Sprachen zu funktionieren.
Doch was steckt dahinter und wie beeinflusst die Muttersprache der Gesprächsteilnehmer die Art und Weise, wie Informationen vermittelt werden? Dieser Frage sind Forscher der Georgia State University (USA) nachgegangen. Ihr Ergebnis ist ebenso eindeutig wie einfach: Egal welche Sprache wir sprechen – es scheint ein universelles Kommunikationssystem zu geben.
Denken – darstellen – sprechen
Şeyda Özçalışkan ist Psychologie-Professorin an der Georgia State University und erforscht seit Jahren die Verbindung zwischen Sprache und Denken. Zusammen mit ihren Kollegen untersuchte Özçalışkan in ihrer Studie die Art und Weise, wie Kinder im Alter von 3 bis 12 Jahren miteinander kommunizieren. Die Kinder sprachen entweder Englisch oder Türkisch und wurden gebeten, bestimmt Handlungen in ihrer Muttersprache und mit ihren Händen zu erzählen.
„Englisch und Türkisch bieten einen guten Vergleich, weil sie sich in der Art und Weise unterscheiden, wie man über Ereignisse spricht“, sagt Şeyda Özçalışkan, die selbst türkische Muttersprachlerin ist.
Eine dieser Handlungen war beispielsweise das Laufen in ein Haus. „Wenn man im Türkischen jemanden beschreiben will, der in ein Haus läuft, muss man das in kleine Stücke zerlegen. Man sagt: ‚Er läuft und dann betritt er das Haus‘“, erklärt die Psychologin. „Aber wenn es auf Englisch ist, sagt man einfach ‚er läuft in das Haus‘ – alles in einem einzigen kompakten Satz. So ist es im Englischen einfacher, sowohl die Art der Bewegung als auch den Weg der Bewegung in einem einzigen Ausdruck zu vermitteln, als es im Türkischen der Fall ist.“
Aus diesem Grund wollten die Forscher herausfinden, ob es Unterschiede in der händischen Beschreibung gibt – und wie früh Kinder diese Muster lernen.
Wortlose Sprache schon mit drei Jahren
Die Forscher baten die Kinder, dieselbe Handlung zunächst mit Worten und Gesten sowie anschließend nur mit den Händen zu beschreiben. Sie fanden heraus, dass, wenn die Kinder gleichzeitig sprachen und gestikulierten, prinzipiell die Gesten ihrer Sprache folgten. Allerdings variierten die Gesten je nach Muttersprache der Kinder. Wenn die Kinder jedoch ausschließlich ihre Hände zur Beschreibung nutzten, waren ihre Gesten bemerkenswert ähnlich.
„Es ist einfacher, sowohl das Laufen als auch das Betreten in einer einzigen Geste auszudrücken, statt zu sprechen. Dies gilt insbesondere für Türkischsprechende, die das Laufen und das Eintreten in zwei getrennten Sätzen ausdrücken müssen“, so Özçalışkan. „Wenn man also nicht spricht, muss die Geste nicht der Trennung von Art und Weg folgen, und man kann sie leicht miteinander verbinden.“
Die Studie ergab auch, dass diese Muster schon in sehr jungen Jahren einsetzen. Im Alter von 3 bis 4 Jahren beginnt die mitsprachliche Gestik der Kinder erstmals, den Mustern ihrer gesprochenen Sprache zu folgen.
Şeyda Özçalışkan untersuchte zusammen mit Kollegen diesen Aspekt auch bei sehenden und blinden Erwachsenen. Die Teilnehmer sprachen ebenfalls Englisch und Türkisch. Auch verwendete die Psychologin dieselbe Herangehensweise wie bei den Kindern.
Eine universale Sprache
Umso erstaunter waren die Forscher, als sie dieselben Unterschiede bei der „Mitsprechgeste“ und Ähnlichkeiten bei der „stummen Geste“ feststellen konnten. Das Besondere: Sogar die nicht sehenden Studienteilnehmer, die von Geburt an blind waren und noch nie andere Menschen gestikulieren sahen, nutzen dieselben Handbewegungen.
Laut Özçalışkan haben bislang alle Studien sehr ähnliche Ergebnisse erbracht. Tatsächlich ähneln viele der von den Teilnehmern verwendeten Gebärden den sogenannten „Hausgebärdensystemen“. Diese informellen Gebärdensysteme werden von gehörlosen Kindern spontan geschaffen und verwendet, bevor sie die offiziellen Gebärdensprachen lernen. „Was wir sehen, sind einige dieser grundlegenden Strukturen, die wir zum Beispiel in frühen Gebärdensprachen finden“, sagte Özçalışkan.
Diese deute darauf hin, dass es möglicherweise ein universelles Gebärdensystem gibt, das es uns ermöglicht, unabhängig von Sprache, Hörvermögen oder Sehkraft miteinander zu kommunizieren.
Im nächsten Schritt möchte die Psychologin blinde türkisch und englischsprachige Kinder untersuchen, um zu sehen, ob die gleichen Muster vorhanden sind.
„Wir haben in unserer früheren Arbeit festgestellt, dass blinde Erwachsene genauso gestikulieren können wie sehende Erwachsene. Sie zeigten nur Unterschiede in der Sprache und in der Mitsprechgeste – aber wenn sie nicht sprechen, zeigen sie Ähnlichkeiten. Die nächste Frage lautet also: Wie früh können wir das nachweisen?“, so Özçalışkan abschließend.
Die Studie erschien am 1. September 2023 im Fachmagazin „Language and Cognition“.
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