„Ein Journalist sollte die Staatsmacht kritisch hinterfragen, nicht die Bürger“

Ist die Corona-Berichterstattung in den Massenmedien homogen und einseitig? Wenn ja – welchen Einfluss hat das auf die Bürger? Ist Staatsgläubigkeit die neue Religion? Und: Wie kann jeder Einzelne dazu beitragen, die Spaltung der Gesellschaft, trotz Differenzen, zu verhindern?
Kolumne „Weitblick“: Wenn sich der Westen verachtet
Der Schweizer Journalist und Autor Giuseppe Gracia.Foto: Giuseppe Gracia
Von 22. Januar 2022
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In einem exklusiven Interview spricht Epoch Times mit dem Schweizer Schriftsteller, Journalisten und Kommunikationsberater Giuseppe Gracia. Als Publizist schreibt er für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung, Focus online, Welt und andere Medien. Zudem ist er Autor von 12 Büchern und PR-Berater u.a. in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Kirche. Er sagt: „Die heutigen Journalisten wollen die Gesellschaft gestalten und werden zu Aktivisten mit publizistischen Mitteln.“

Herr Gracia, Sie kommen aus dem Mediensystem, sind sozusagen ein Insider. Sie sagen selbst: Die Corona-Berichterstattung der Medien ist sehr einseitig. Wie kommt das?

Es ist für viele wohl eine moralische Verantwortung, die Maßnahmen der Regierung im Kampf gegen die Pandemie zu unterstützen. Statt kritisch die Macht zu hinterfragen, macht man sich dann zum Sprachrohr der Regierung, weil man die Pandemie mitbekämpfen möchte. Maskenpflicht, Shutdowns, Lockdowns und weitere Freiheitsbeschränkungen: Das sind die propagierten Mittel gegen das Virus bei gleichzeitiger Marginalisierung von Kritik an diesem Kurs. Grundsatzkritik ist nicht mehr erwünscht.

Obwohl dieser Kurs bislang wenig gegen das Virus ausrichtet, während der wirtschaftliche und gesellschaftliche Schaden, der durch die Maßnahmen entsteht, enorm ist. Nicht wenige Medien diffamieren Menschen, die Grundsatzkritik üben, ob Wissenschaftler, Juristen, Politiker oder Kulturschaffende. Auch gibt es Hetze gegen Ungeimpfte. Tausende von Bürgerinnen und Bürger, die auf die Straße gehen und protestieren, werden als Coronaleugner bezeichnet, als Wissenschaftsleugner, als rechts oder Nazi. Mir scheint es so, als ob die Journalisten suggerieren, es gäbe keine legitime, rational nachvollziehbare Opposition gegen Regierungsmaßnahmen. Dabei wäre für einen guten Journalismus nicht Bürgerkritik, sondern Staats- und Machtkritik fundamental. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung.

Abseits der Corona-Politik: Haben Sie eine Veränderung der Berichterstattung in der Medienlandschaft wahrgenommen? Inwiefern hat dies einen Einfluss auf die Bürger?

Medienschaffende sollten möglichst sachlich berichten und sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten. So jedenfalls habe ich es gelernt. Heute wollen viele aber nicht nur berichten oder kommentieren, sondern etwas verändern. Sie wollen die Gesellschaft gestalten und werden zu Aktivisten mit publizistischen Mitteln.

Im angelsächsischen Raum nennen sie es inzwischen „transformativen Journalismus“. Früher nannte man es „Haltungsjournalismus“. Das bedeutet, die Gesellschaft nicht mehr zu beschreiben, nicht mehr zu sagen, was ist, sondern die Gesellschaft zu verändern, eben zu transformieren. Es ist auch Volks-erzieherisch. Das spüren die Menschen, deswegen wächst das Misstrauen in die Medien.

Natürlich gibt es auch Redaktionen und Medienhäuser, die weiterhin seriös und sachlich arbeiten und die auch einen Pluralismus von Meinungen zulassen. Aber dieser Trend zum Aktivismus und zur Volksbelehrung, den kann man nicht leugnen, man kann ihn überall beobachten, auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. In der Schweiz, in Deutschland, in Österreich vermutlich auch. Das sind Volks-belehrende Beiträge, die man sieht. Man kann auch nicht mehr zwischen Kommentar und Berichterstattung unterscheiden.

Diese Wendung ist schon sehr erstaunlich wenn man bedenkt, als es noch vor wenigen Jahrzehnten, in meiner Ausbildung zum Journalisten geheißen hat: „Du musst immer die Macht hinterfragen, das ist eine wichtige Funktion“. Heute wird eher der Bürger hinterfragt und nicht mehr die Macht. Das ist schon eine seltsame Wandlung.

Wie erklären Sie sich das politische Weltgeschehen inmitten der Krise? Wieso agieren die Regierungen weltweit so, wie sie eben agieren? 

Ich denke nicht, dass es eine Verschwörung gibt, mit einem großen, zentral gesteuerten Plan. Ich glaube hier eher an eine Art „Schwarmintelligenz“. Riesige Ereignisse können nicht kontrolliert werden, das scheint mir nicht realistisch. Die Menschen sind chaotisch, das lässt sich gar nicht steuern. Aber der Mainstream ist so eine Art Herdenverhalten, eine kollektive Stimmung, der man opportunistisch folgt, ob nun im Kampf gegen einen Virus, gegen den Klimawandel oder für Genderfragen. Man fügt sich der vorhandenen Stimmung, statt sie kritisch zu hinterfragen. Wer aus der Herde ausschert, wird bestraft, das war schon immer so, auch im Mediensystem.

Außerdem scheinen mir Journalisten seit ein paar Jahren, zumindest im deutschen Sprachraum, grundsätzlich staatsgläubiger geworden zu sein. In dem Sinne, dass man sich mehr Lösungen vom Staat, von Gesetzen und Verboten erhofft, als von der Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger.

Ich habe das Gefühl, viele Kollegen, die ich kenne, auch Intellektuelle, denken von der Freiheit des Einzelnen nicht besonders gut. Sie denken, die Freiheit werde missbraucht, die Leute seien unverantwortlich, wenn man sie ließe, man müsse sie eher einhegen. Das ist eher die Meinung von elitären Leuten. Für einen Journalisten ist es eine seltsame Haltung. Ein Journalist sollte sich keine moralischen Urteile darüber bilden, wie Menschen ihre Freiheiten brauchen. Er sollte diese Freiheiten zuerst einmal grundsätzlich verteidigen und die Staatsmacht hinterfragen.

Ich finde, auch Missbrauch von Freiheit ist kein Einwand gegen die Freiheit. Wenn man an Freiheit glaubt, glaubt man an sie. Man glaubt daran, dass sie unterm Strich mehr Gutes bringt als totalitäre Systeme. Das ist der liberale Gedanke. Dass man Freiheit missbrauchen kann ist klar, aber antiliberale Systeme sind noch viel schlimmer.

In welche Richtung wird sich die Medienberichterstattung weiterentwickeln, können Sie eine Prognose abgeben?

Die digitale Revolution hat das Medienschaffen in einem nie gekannten Ausmaß beschleunigt. Der digitale Raum, der nie schläft, hat die Medien in einen Dauerschub versetzt und zunehmend „geglättet“.

Die Konzentration auf wenige Medienkonzerne scheint einen Einheitsstrom der Meinungen zu begünstigen, der sich international gegenseitig bestätigt und echohaft verstärkt. Da sich viele Journalisten gemäß Umfragen zudem eher mit dem linksgrünen Spektrum identifizieren, ist der mediale Mainstream dann auch entsprechend gefärbt. Ändern würde sich das erst, wenn es mehr liberal-bürgerliche oder konservative Medienschaffende gäbe, die in diesem Beruf arbeiten und Teil des Systems werden. Und Verleger, die solche Medienschaffende und Sichtweisen im politischen Alltagsgeschäft fördern und dann auch finanziell tragen.

Gibt es Ihrer Meinung nach in der aktuellen Coronakrise Parallelen zu kommunistischen oder faschistischen Ideologien?

Das würde ich nicht sagen. Diese Zeiten sind vorbei und auch die Methoden sind ganz anders. Ich würde eher davon reden, dass es einen „soften“ Totalitarismus gibt und einen harten. Die Kommunisten oder die Faschisten sind der harte Totalitarismus, der physisch brutal mit Vernichtung vorgeht. Der softe ist mehr eine Art „Social Scoring System“, wie es die Chinesen zum Teil auch kennen. Man erfährt da eher soziale oder berufliche Nachteile, es werden also eher sanfte Methoden angewendet. Mit einem echten totalitären System kann das – zumindest bei uns im Westen – nicht wirklich verglichen werden.

Unsere Epoche hat eigene Herausforderungen und Gefahren. Wir haben einen enormen Anstieg technischer Macht. Eine Forschung, die seit einigen Jahrzehnten so innovativ war wie noch nie in der Menschheitsgeschichte. Wir haben durch die Digitalisierung einen unglaublichen technischen Fortschritt erreicht.

Eine der größten Gefahren ist, dass wir diesem enormen Anstieg unserer Macht moralisch und demokratiepolitisch nicht gewachsen sind. Ganz zugespitzt gesagt: wie Primaten mit Handys – das wäre gar nicht gut. Gut wäre, wenn wir Technologien wie das Internet oder das Smartphone so nutzen, dass sie der Freiheit und der Würde des Menschen dienen und nicht seiner Unterdrückung.

Wenn ich Sie zitieren darf, Sie sagen: „Die neue Religion ist der Staat und die härtesten Priester, die am rigidesten glauben, sind die Journalisten“. Neigen Menschen, die nicht an das Göttliche oder Transzendentale glauben, eher dazu „staatsgläubig“ zu sein?

Ich denke, wenn keine Religion da ist, die Menschen zusammenführen kann, eine Religion, die den Platz Gottes und den Glauben an übergeordnete Weisheiten und Werte symbolisieren kann, dann wird dieser Platz von einer Ideologie eingenommen. Dann ist die Gefahr groß, dass der Staat eine Übergröße wird, dass auch die Politik eine Heilskraft wird und man sie extrem hoch hängt und dann auch erbittert für politische Ziele kämpft, als wäre es ebenso wichtig wie ein Gott. Das erklärt jedenfalls die zunehmende Härte, Polarisierung und auch Gnadenlosigkeit unserer Debatten und der um sich greifenden politischen Unkultur.

Dass dann der Staat religiös überhöht wird, hatten wir schon in der Antike, wo der Kaiser gleichzeitig Gott war. Das kann jederzeit wieder zurückkommen, wenn die Religionen verschwinden.

Der Mensch ist offensichtlich so gebaut, er ist ein religiöses Wesen, er braucht eine transzendente Größe in seinem Leben. Wenn diese Größe nicht von einer Religion gefüllt wird, ist es eben der Staat oder die Mehrheitsmeinung, das Kollektiv. Das ist eine gefährliche Sache. Es ist immer gut, wenn es einen Kaiser gibt und einen Gott. So, wie Jesus Kaiser und Gott trennt. Das ist die Grundlage der Freiheit.

Viele liberale Denker, von Alexis de Tocqueville bis zu den großen Gegenwartsliberalen, wissen das. Auch Böckenförde (Anm. d. Red.: Ernst-Wolfgang Böckenförde war ein deutscher Staats- und Verwaltungsrechtler sowie Rechtsphilosoph) sagt, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht garantieren kann. Die meisten liberalen Denker wissen, Freiheit ist nur zu retten, wenn Religion und Staat da sind, aber getrennt.

Sie sind gläubiger Katholik – als junger Mann waren Sie überzeugter Marxist. Wie kam es zu dieser Wandlung?

Das ist ein langer Weg und das ist auch noch gar nicht abgeschlossen. Ich finde ja nicht, dass Marx mit allem unrecht hatte und genauso wenig finde ich, dass die katholische Kirche mit allem recht hat. Das ist beides nicht der Fall für mich. Ich war in erster Linie einfach fasziniert von der Theologie, die ich erst nach meiner marxistischen Zeit kennenlernte. Heute ist mir auch klar, dass die Antwort des Marxismus, der Klassenkampf, die Welt nicht besser macht. Es wird immer reiche und arme Menschen geben, das ist leider die Wirklichkeit. Den Himmel auf Erden gibt es nicht.

Mir fiel irgendwann auf, dass diese Versprechen des klassenkämpferischen oder sozialistischen Denkens nicht einlösbar sind. Dass die Menschheit nicht moralisch fortschreitet wie eine Formel im wissenschaftlichen Bereich, sondern dass sie immer mehr oder weniger gleich bleibt. Moralisch gesehen fängt jeder Mensch bei null an. Klar gibt es Generationen vor uns, die Erfahrungen und Traditionen haben. Wir können die aber auch ablehnen, wir fangen moralisch gesehen immer bei null an.

Ich war damals spirituell auf der Suche und die katholische Tradition hat mich fasziniert, weil sie so reichhaltig ist, auch intellektuell sehr tief, mit großer Weisheit über die Natur des Menschen. Die katholische Tradition hat mich intellektuell ganz langsam wieder in die Kirche zurückgeholt. Das christliche Denken schien mir auch viel wärmer und menschenfreundlicher als diese kalten atheistischen und klassenkämpferischen Autoren, die ich vorher gelesen hatte.

Thomas von Aquin sagte im Mittelalter: „Im Menschen wohnt die Lust des Tieres und die Lust des Engels, beides zugleich.“ Diese Spannweite von Menschenbetrachtung habe ich bei anderen Autoren nur selten gefunden. Das Tierische und das Engelhafte in einem. Das spricht mich einfach an, es passt zu meinem Leben und passt zum Leben von vielen, denke ich.

Zurück zur aktuellen Corona-Krise: Was kann jetzt jeder Einzelne tun – egal auf welcher Seite er sich befindet – um die Spaltung der Gesellschaft nicht noch weiter zu vertiefen? Wie kann man wieder zueinanderfinden, trotz Differenzen, trotz Meinungsverschiedenheiten?

Das ist eine schwierige Frage, weil die gemeinsame Mitte fehlt. Mir scheint ja, die gemeinsame Mitte – früher war das vielleicht eine Religion oder ein gemeinsamer Wert, der nicht in Zweifel gezogen wurde, gemeinsame moralische Vorstellungen, die Zehn Gebote – das alles ist weggefallen. Der Pluralismus und der Relativismus haben die gemeinsame Mitte, den gemeinsamen Boden weggenommen. Jeder ist jetzt sein eigenes Schiff, seine eigene Insel. Etwas gemeinsam zu haben ist da sehr schwer. Das ist die Polarisierung, das ist gerade die Pointe der Individualisierung der Gesellschaft. Man steht sich irgendwann fremd gegenüber.

Ich schlage vor, dass wir wieder lernen, einander zuzuhören. Schön wäre auch, wenn wir uns in der Politik und in den Medien zurückbesinnen auf die Kultur der Scholastik. Die Scholastik ging davon aus, dass man zuerst den gegnerischen Standpunkt wiederholen muss, bevor man ihn kritisieren darf, und zwar in Anwesenheit des argumentativen Gegners.

Um noch einmal den Kirchenlehrer Thomas von Aquin zu erwähnen: Er legte in seinem Verständnis von Diskurs großes Gewicht auf den Fragehorizont des Gegenübers. Sorgfältig wurde die andere Position in der scholastischen Tradition durchdacht, gewürdigt und im Dialog möglichst stark gemacht. Erst dann durfte man Kritik daran üben und die eigene Sicht darlegen.

Ich bin dafür, dass man dieses Vorgehen für Politiker und andere öffentliche Kommunikatoren zur Pflicht erhebt. Als Vorbild für alle anderen. Sie müssten zuerst den Standpunkt des anderen wiederholen, bis der andere sagt „Ja genau, du hast mich verstanden“. Sich verstehen wäre also der erste Schritt.

Ein Bekannter von mir, der seit vielen Jahren Beziehungs- und Eheberatung macht, sagte mir, die Menschen müssten das Zuhören neu lernen. Viele Paare könnten das nicht mehr. Vielleicht ist das heute ein generelles Problem, dass wir eher auf Senden statt auf Empfangen eingestellt sind. Der Coronamaßnahmenkritiker und der Coronamaßnahmenbefürworter könnten sich ja mal zuhören und nicht einfach auf den anderen draufschlagen. Das wäre schon ein riesiger Schritt. Wenn man auf den sozialen Plattformen wie Twitter schaut, herrscht zum Teil eine brutale Sprache und ein würdeloses, gegenseitiges Abkanzeln, es ist geradezu hässlich.

Es scheint, jeder ist in seiner eigenen Welt gefangen und kann sich nur schwer darauf einlassen, sich in die andere Person hineinzuversetzen. Vielleicht hat das auch etwas mit Selbstschutz oder Angst zu tun?

Ja, auch mit Überforderung von all den verschiedenen Meinungen. Aber das ist vielleicht auch eine Folge des Relativismus und der Pluralisierung. Man kann nicht alles als relativ erklären und gleichzeitig glauben, die Menschen hätten dann noch einen Zusammenhalt. Es bräuchte wie gesagt eine gemeinsame Mitte, einen gemeinsamen Wertekonsens, den man miteinander trägt.

Das Interview führte Ani Asvazadurian.

 



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