Die Weisheit des Herzens: Wie man den Narzissmus in sich besiegt

„Es macht den Menschen zu einem guten Menschen, wenn er immer wieder bemüht ist, etwas dazuzulernen“, sagt Dr. Raphael M. Bonelli
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Dr. Raphael BonelliFoto: Steter GmbH/Gestaltung: Epoch Times
Von 10. November 2023

Das Thema Narzissmus wird im Alltag immer präsenter. Ist er eine notwendige Triebfeder für Erfolg und Selbstbehauptung oder eine schleichende Gefahr für unsere mentale Gesundheit und unsere Beziehungen?

Der Wiener Psychiater Dr. Raphael Bonelli gibt in diesem Interview Aufschluss und gewährt uns Einblicke in sein neuestes Buch „Die Weisheit des Herzens“. Darin zeigt er Wege zu einem von Werten bestimmten Leben und wie wir uns von unserem eigenen Narzissmus und anderen Schwächen des Herzens befreien können, um der Mensch zu werden, der wir sein wollen.

Lassen Sie uns zunächst über den Narzissmus sprechen, der aktuell ein großes Thema ist. Ist er für jeden ein Thema oder nur für manche?

Wir haben tatsächlich alle einen Narzissmus in uns, der großteils nicht von uns wahrgenommen wird. Wenn wir auf die Suche gehen nach diesem Narzissmus und ihn überwinden, dann können wir uns wirklich entfalten. Dann können wir zu großen Höhen aufsteigen. Dann können wir hinter dem Ich das Du entdecken. Dann können wir in die Beziehung gehen und dann können wir lernen zu lieben.

Der Narzisst ist gefangen in sich selbst. Er liebt nur sich selbst und sein eigenes Spiegelbild, wie es in der griechischen Mythologie so schön dargestellt wird. Mehr noch: Er wertet andere ab und hat keine Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Er interessiert sich also nicht für das Wahre, Gute und Schöne, sondern nur für sich selbst und betrachtet sich im Grunde selbst als das ultimative Kriterium für das Wahre, Gute und Schöne.

Die Fähigkeit zur Liebe, zur Hoffnung und zum Glauben, das gibt es im Narzissmus nicht. Narzissmus ist einer der Hemmschuhe, die uns daran hindern, uns zu entfalten.

Wie kommt es dazu, dass Narzissmus in unserer Gesellschaft so ein großes Thema geworden ist?

Es gibt Studien, die zeigen, dass Narzissmus immer stärker im Kommen ist. Der durchschnittliche Narzissmuswert steigt etwa seit den 80er-Jahren an.

Wissenschaftliche Studien haben sehr gut herausgearbeitet, dass Eltern ihre Kinder zu Narzissten erziehen, indem sie alles, was sie tun, sensationell finden und sie für alles loben. Das wird später vom Kind übernommen. Daraus können dann manifeste Persönlichkeitsstörungen oder diese Persönlichkeitseigenschaften entstehen.

Welche Auswirkungen hat Narzissmus auf den Menschen, wenn er nichts dagegen unternimmt? Sind Narzissten sorglose und glückliche Menschen?

Nein. Der klassische Narzisst scheitert irgendwann, weil er nicht lieben kann. Die meisten Narzissten scheitern in der Ehe, weil sie sich einfach nicht zurücknehmen. All das, was die Weisheit des Herzens ausmacht, das kann er nicht.

Er kann sich anderen nicht in den Dienst stellen, er kann nicht auf das Du zugehen, er kann nicht Danke sagen, er kann nicht verzeihen. Er kann vor allem nicht um Verzeihung bitten. Er kann keine Fehler einsehen und nicht bereuen.

Alle diese höheren Funktionen des Herzens, die hat er nicht, weil er nicht will. Er will nicht bereuen. Er besteht darauf, keine Fehler zu machen und immer der Beste und Makelloseste zu sein.

Gibt es Narzissten, die eine narzisstische Persönlichkeitsstörung haben, die dann trotzdem sagen, dass sie sich wirklich ändern möchten?

Ja, natürlich. Weil wir Menschen frei sind. Wir können uns auch gegen die eigene Haltung entscheiden. Es ist selten, aber es passiert, dass einer zur Therapie kommt und nicht weiß, welche Probleme er hat. Wenn wir dann darauf kommen, dass das Narzissmus ist, dann sagt er: „Oh Gott, so will ich nicht sein, wie kriege ich das weg?“ Das ist eine ideale Voraussetzung, um daran zu arbeiten. Und so bekommt man ihn weg.

Handlungen, die aus dem Herzen kommen, verändern den ganzen Menschen. Es muss aber kontinuierlich eingeübt werden.

Ein gutes Beispiel für jemanden, der eine Wende des Herzens hingelegt hat und sich dann auch noch sehr für andere eingesetzt hat, war Oskar Schindler. Er war ein Narzisst, der sich später gewandelt hat und im Dritten Reich sehr viele verfolgte Juden gerettet hat.

Wenn ich bei mir narzisstische Anteile erkannt habe und daran etwas ändern möchte, wie gehe ich am besten vor? Sicherlich braucht man einen starken Willen, oder?

Am Anfang ist der Wille das Wichtigste, um zur Selbsterkenntnis zu kommen. Den Willen braucht man, um sich einmal wirklich im Spiegel anzuschauen und zu fragen: „Was ist mit mir los? Was tue ich da? Wie gehe ich mit meiner Frau, meinen Kindern, den Kollegen oder mit den Steuern um?“

Wichtig ist dabei, für alle möglichen Erkenntnisse offen zu sein. Viele betrügen sich selbst, indem sie nicht so genau hinschauen.

In Wirklichkeit geht es nicht nur um Narzissmus, sondern darum, dass ein Mensch nicht auf das Wahre, Gute und Schöne ausgerichtet ist. Nicht alle Verbrecher sind Narzissten, aber alle Verbrecher haben ihr Herz auf die falschen Werte hin geordnet.

Und dann?

Der Drang ist noch in mir, weil ich mich daran gewöhnt habe. Aber ich kann mich entscheiden, dass ich die Handlungen nicht herauslasse. Daran arbeite ich mit meinen Patienten.

Wenn man erkannt hat, dass man nicht so ein Mensch sein will, der seine Frau anschreit, dann kann man vom Herzen her eine Handlung setzen und sagen: „Ich will so ein Mensch nicht sein, ich will mich ändern, ich will das nicht.“ Je häufiger ich vom Herzen her in diese Handlung gehe, desto mehr verschwindet der Impuls.

Im Grunde geht es um den verantwortungsvollen Umgang mit den eigenen Emotionen – das ist die Weisheit des Herzens. Und das ist das, was eigentlich mein Anliegen ist, dass wir neu lernen, mit unseren eigenen Emotionen umzugehen und gerne auch mit dem eigenen Narzissmus, damit wir am Ende des Tages die Person werden, die wir eigentlich sein sollen oder sein wollen. Die beste Version meiner selbst.

Das vollständige Interview sehen Sie unter www.epochtv.de

Wenn man keine Werte hat, nach denen man sich ausrichten kann, wie kann man dann den eigenen Charakter verbessern?

Da haben Sie recht. Wir müssen Ziele für unseren Charakter definieren: Was halte ich persönlich für wesentlich und gut? Was ist mir wichtig? Bei der Suche können zwei Methoden helfen.

Erstens die Sterbebett-Frage: Was möchte ich, wenn ich auf meinem Sterbebett liege und zurückblicke, was möchte ich für ein Leben gelebt haben?

Ich war im Januar dieses Jahres ja schwer krank und stelle diese Frage vermehrt meinen Patienten. Es ist schön zu sehen, dass das viele Menschen sehr berührte. Bei der Frage: „Wie möchtest du gelebt haben?“, kommen keine narzisstischen Antworten und auch nicht, dass ich noch mehr Affären oder noch mehr tolle Urlaube gehabt haben möchte.

Sondern die Menschen wünschen sich eine Versöhnung mit dem Vater oder der Mutter oder bessere Beziehungen zu den Kindern oder vielleicht überhaupt Kinder.

Viele dieser Antworten kann man direkt verwirklichen. Du kannst jetzt auf deine Geschwister zugehen und dich mit ihnen versöhnen. Du kannst jetzt eine bessere Ehe führen, du kannst dich jetzt mehr um deine Kinder kümmern.

Und die zweite Methode?

Das Zweite, was den Werten noch näher kommt, ist die goldene Regel. Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Das kann man auch positiv formulieren: Was du willst, das man dir tut, das mach auch den anderen.

Ein Mensch kommt damit weiter, wenn er sich überlegt, welche Menschen er mag und mit welchen Menschen er sich gerne umgibt und warum. Wenn er das genau definiert, sind das seine Werte.

Das sind die zwei Dimensionen, wie ich meinen Patienten helfe, ihre eigenen Werte zu erkennen. Denn es hilft nichts, wenn ich ihnen als Psychiater meine Werte überstülpe.

Sie müssen ihre Werte identifizieren, es kann nicht irgendetwas sein. Es muss einen Zusammenhang haben mit dem Wahren, Guten und Schönen. Aber interessanterweise hat es das bei den Menschen immer.

In der Realität kommen die schlechten Eigenschaften von früher sicherlich hin und wieder durch. Wie kann man dran bleiben und nicht aufgeben?

Der nächste Schritt nach den Werten ist das Gewissen, es hilft bei der Umsetzung. Das Gewissen überprüft oder vergleicht meine Handlungen mit meinen Werten.

Theorie und Praxis klaffen immer auseinander. Menschen finden es zwar gut, wenn man ehrlich und aufrichtig ist, aber in Wirklichkeit lügen sie häufig wie gedruckt. Wenn aber das Gewissen aktiv und intelligent ist und wenn man es wirklich gewähren lässt und nicht unterdrückt, dann ist es bereit und fähig, uns auch anzuzeigen, wo man sich verändern muss.

Zum Beispiel ist Sparsamkeit eine Tugend, wenn auch keine besonders hohe. Wenn sie aber der höchste Wert ist, dann stimmt es an anderer Stelle nicht. Barmherzigkeit und Großzügigkeit gehen dann verloren. Deswegen ist es wichtig, dass das Gewissen allumfassend gebildet ist und auch wirklich prüft, wo mir etwas fehlt.

Menschen haben blinde Flecken in ihrer Werteskala oder in ihrem Gewissen. Es ist die Aufgabe des Menschen, diese Löcher zu schließen. Es macht den Menschen zu einem guten Menschen, wenn er immer wieder bemüht ist, etwas dazulernen.

Was ist, wenn ich das Gefühl habe, nicht beobachtet zu werden, höre ich dann auf, an mir zu arbeiten? Wofür mache ich das alles? Was ist also der höhere Sinn dahinter?

Das ist wichtig. Es gibt die intrinsische Motivation und die extrinsische Motivation. Und das haben Sie angesprochen: Wenn mich niemand sieht, was ist dann? Die wertvollsten Dinge machen wir nicht, weil wir gesehen werden, sondern weil wir davon überzeugt sind, egal was es uns kostet.

Das Maximum an dieser Konsequenz waren die christlichen Märtyrer, die friedfertig waren und niemanden aggressiv angegangen sind, die aber für ihre Überzeugung in den Tod gegangen sind. Sie wussten, dass sie das Richtige tun.

Im Alten Testament liest man immer wieder von Regimen, die verboten haben, die Toten zu begraben. Dann haben die Leute im Dunklen die Toten vergraben, weil es ein traditionelles Werk der Barmherzigkeit ist, dass man jemanden nicht verfaulen lässt, sondern ihn vergräbt.

Immer wieder wird ja das Gute verboten. Die Mutigen haben sich darüber hinweggesetzt. Da fallen mir die Geschwister Scholl ein. Sie haben viele verbotene Sachen gemacht und dafür mit dem Leben bezahlt.

Die gesunde Motivation kommt von innen, man ist überzeugt, dass man das Richtige tut. Der Mensch ist so aufgebaut, dass er eine Sehnsucht nach dem Wahren, dem Guten und dem Schönen hat. Er hat auch die Sehnsucht danach, in den Dienst zu gehen – sich also zu schenken. Ich nenne das Hingabe, die Fähigkeit, sich dem Guten mit einem gewissen Einsatz wirklich hinzugeben.

Nehmen wir Mutter Teresa, die ihr ganzes Leben hingegeben hat, indem sie sich um die Ärmsten der Armen gekümmert hat. Das war deswegen so glaubwürdig, weil es von innen heraus kam.

Deswegen ist die Unterscheidung, ob die Motivation von außen oder innen kommt, so zentral. Ich unterscheide auch zwischen extrinsischen und intrinsischen Werten. Wir leben heute in einer Zeit, in der viele Leute über Werte reden und diese vor sich hertragen. Das sind aber extrinsische Werte, Werte, die sie gar nicht so ernst meinen und bei denen es ihnen mehr um sich selbst und um ihre Selbstpräsentation als Gerechte geht, in dem Fall sind das selbstgerechte Menschen. Das nenne ich moralischen Narzissmus.

Da sind wir wieder beim Narzissmus: Diese Menschen idealisieren ihre eigene Weltanschauung und werten alle anderen Meinungen ab. Das ist moralischer Narzissmus und das führt zur Cancel Culture und zu all den schrecklichen Sachen, die wir heute erleben.

Herr Bonelli, herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Ani Asvazadurian. (redaktionelle Bearbeitung mk)

Das vollständige Interview sehen Sie auf www.epochtv.de

 

Die Weisheit des Herzens: Wie wir werden, was wir sein wollen
Dr. Raphael M. Bonelli
ISBN 978-3-99001-677-0
272 Seiten
Verlag: edition a



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