DDR-Bürgerrechtler: „Wir sind das größte Problem losgeworden, den Kommunismus!“

Berlin, Jannowitzbrücke, Chinesische Botschaft. Es ist kalt, doch das sind die DDR-Bürgerrechtler gewohnt. Dass die Obrigkeit sie unangenehm beäugt, ebenfalls. Warum kommen sie trotzdem?
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Michael Heinisch-Kirch, Stefan Müller vor der chinesischen Botschaft in Berlin.Foto: ks/Epoch Times
Von 11. Dezember 2024

Düster, zugig und kalt ist es vor der chinesischen Botschaft in Berlin am 10. Dezember. Polizisten tragen überraschend viele Metallabsperrungen hin und her. Die Fenster der Botschaft wirken abweisend und fest verriegelt. Und die Antenne auf dem Dach funkt möglicherweise gerade nach Peking, was sich auf der Straße vor der Botschaft abspielt.

Noch während gut 200 Schüler und Lehrer in ihre Busse einsteigen – sie haben gerade für Religionsfreiheit demonstriert – machen sich die nächsten mit einem ähnlichen Anliegen bereit.

Es sind bekannte Bürgerrechtler aus der DDR. Stefan Müller und Michael Heinisch-Kirch wollen stellvertretend für 49 weitere namhafte Bürger dem neuen chinesischen Botschafter ihren Protestbrief überbringen. Doch vorerst müssen sie warten, bis die Metallgitter zur Seite geräumt sind.

Friedensbewegung 1989: Als Chinas Botschaft ihn verhaften ließ

Stefan Müller, wichtiger Akteur der DDR-Friedensbewegung, ist in Berlin weithin bekannt. Er war Mitinitiator der Demonstrationen gegen den Wahlbetrug in Ostberlin 1989 und erfuhr Verfolgung durch die Stasi, Verhaftung und Repressalien. Später arbeitete er beim oppositionellen Kontakttelefon in der Gethsemane-Gemeinde in Berlin mit. Heute ist er im Sozialpsychiatrischen Dienst Ansprechpartner für viele, die Schwierigkeiten mit der Obrigkeit haben. Doch warum ist er heute hier?

„Mich hat es dieses Jahr am 7. bis 9. November zum 35. Jahrestag der Revolution geflasht, mit jemandem aus China auf dem Podium zu sitzen, und zwar einem Studentenführer vom Platz des Himmlischen Friedens von 1989.“

Er erinnert sich. Damals, als Bürgerrechtler in der DDR, schöpften sie Hoffnung und Motivation aus den Studentenunruhen in China.

„Auf dem Platz des Himmlischen Friedens für Freiheiten einzutreten, für Versammlungsfreiheit, für Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, für Reisefreiheit, für Pressefreiheit! Wir waren ganz aufgekratzt. Wir dachten ‚Mensch, die machen das, was wir hier auch gern hätten‘.” Er zieht Parallelen zwischen der DDR und dem damaligen China, beide Male sind es die kommunistischen Regime, in denen sich die Bürger auflehnten.

„Als die einfach mit den Panzern durchgefahren sind, waren wir bitterenttäuscht.” Bilder, wie die kommunistischen Kräfte ein Blutbad verübten, gingen um die ganze Welt.

Müller klingt empört: „Wenig später sind die Genossinnen und Genossen der DDR-Regierung nach Peking gereist und haben die beglückwünscht! Das hat uns so ärgerlich gemacht, dass wir Protestbriefe geschrieben haben, auch damals schon an die chinesische Botschaft. Wir wollten es am 6. Juni 1989 übergeben – und sind von der Polizei verhaftet worden.”

Doch damit waren die Protestaktionen für ihn nicht zu Ende. Sie organisierten mehrere Protestaktionen für die chinesischen Studenten. „Und plötzlich rede ich mit jemandem darüber aus China.“ Diese Begegnung mit einem „chinesischen Bruder im Geiste der Demokratie“ schnürt ihm den Hals zu.

Seine Stimme kratzt etwas. Wie sehr er innerlich berührt ist, kann man fast selbst fühlen. An seiner Seite steht heute Lebin Ding. Der Chinese kämpft für seine Eltern. Sein Vater wurde unrechtmäßig in China verurteilt, weil er Falun Gong praktiziert. Für diesen folgen Folter und Zwangsarbeit. Ihm droht möglicherweise noch Schlimmeres. Organraub an Gewissensgefangenen ist in China keine Seltenheit. Das würde sehr wahrscheinlich seinen Tod bedeuten. Auch seine Mutter wurde verhaftet, konnte jedoch bereits freigekämpft werden. Sie steht unter strikter und heimlicher Überwachung in ihrem Ort. Zahlreiche NGOs für Menschenrechte, Abgeordnete aus verschiedenen EU-Staaten und viele Bürger unterstützen Lebin Ding. Peking will ihn zum Schweigen bringen.

Ob die kalte chinesische Botschaft hinter uns unsere Worte abhört? Vermutlich reichen die Mikrofone bis zu unserem Standort auf der Jannowitzbrücke. Ob sie auch seinen Berliner Jargon transkribieren, wissen wir nicht. Stefan Müller redet weiter.

Müller: „Wir sind das größte Problem losgeworden, den Kommunismus!“

„Nachdem wir 1989 den Kommunismus losgeworden sind, war das für uns eine fantastische Befreiung. Wir sind das größte Problem losgeworden, das es gibt! Alle anderen Probleme sind kleiner.“

Für Müller ist es exemplarisch, Unterschriften für Dings Anliegen zu sammeln und an die chinesische Botschaft zu übergeben. „Wir haben den Protestbrief in Gang gebracht, um für Gewissensfreiheit, für Glaubensfreiheit, für Meinungsfreiheit, für Pressefreiheit einzutreten“, so der Leipziger, der schon lange in Berlin wohnt.

Dass diese Freiheiten in China so dringend fehlen, zeigt dem früheren DDR-Bürgerrechtler zudem deutlich, „wie schludrig wir hier damit umgehen“.

Die Botschaft wird nervös

Nun sind die transportablen Metallgitter abgeräumt. Die deutsche Polizei hat den Bürgerrechtlern tatsächlich erlaubt, bis zum Tor der Botschaft zu gehen, zu klingeln und ihren Brief einzuwerfen. Das mag banal erscheinen, ist es aber nicht. Das darf nicht jeder. Normalerweise hält die Botschaft zusätzlich zu ihrem hohen Metallzaun auf Abstand. Der Botschafter werde nicht erscheinen, lässt er mitteilen. Doch die Bürgerrechtler dürfen dort stehen und auch zu den Pressevertretern reden. Die Polizei rückt für die Fotos zur Seite.

Es mögen nur eine Handvoll Menschen sein, die jetzt zum Briefkasten gehen. Sie stehen und sprechen in die Mikrofone. Ihre Standhaftigkeit ist beeindruckend, Plakate formulieren ihr Anliegen deutlich und klar in mehreren Sprachen. Die Videos laufen, Smartphones klicken für die sozialen Medien.

Aus der Botschaft heraus dürften noch erheblich mehr Kameras auf sie gerichtet sein. Zögern sie ihre eigentlich banale Handlung – einen Brief einwerfen – absichtlich hinaus? In den langen Jahren als Bürgerrechtler haben sie viele solche Situationen erlebt.

In der Botschaft scheint jemand unruhig zu werden. Es kommt doch ein Mann heraus, gut gekleidet und im schwarzen Mantel und geht hinter dem Metallzaun auf die Bürgerrechtler zu. Dann überlegt er es sich anders und biegt zu einem Polizisten ab. Dieser möge doch bitte die Aktion unterbinden.

Die deutsche Polizei sieht das anders, nichts passiert. Erst später wird den Bürgerrechtlern überhaupt mitgeteilt, dass es diese Forderung von chinesischer Seite gab.

Freiheit ist wie Gesundheit – „man muss etwas dafür tun“

Es werden noch mehr Fotos gemacht, vor allem von den Transparenten und auf der Brücke. Hat Stefan Müller keine Befürchtungen, wieder auf einer schwarzen Liste zu landen und irgendwo Ärger zu kriegen? Schließlich gibt es einige illegale chinesische Polizeistationen in Deutschland – und vielleicht hat die chinesische Botschaft mithilfe ihrer riesigen Datensammlungen längst herausbekommen, dass er kein Unbekannter ist.

Gelassen entgegnet er: „Ja, dann ist es eben so. Nach China werde ich wahrscheinlich nicht reisen dürfen. Freiheit bedeutet auch, etwas dafür zu tun. Dafür muss man etwas investieren, das kommt nicht von allein. Es ist ähnlich wie die Gesundheit. Wenn sie fehlt, ist es schmerzhaft. Und für die Gesundheit muss man auch etwas tun, genauso wie für die Freiheit.“

Wenn das Opfer ist, dass er nicht nach China reisen kann, geht es eben woanders hin. „Zur Reisefreiheit gehört auch eine gewisse Verantwortung.“

Müller: „Könnt Ihr das wirklich reinen Gewissens tun?“

Was würde er denn den Botschaftsmitarbeitern sagen, wenn sie ihm zuhören würden? Schließlich wollten sie mit den Botschafter sprechen.

„Leute, lasst euch nicht kaufen. Klar ist es schön, sich sicher zu fühlen, auf der ‚sicheren‘ Seite zu sein – doch die ist nicht sicher. Was ist das für eine Schande, die ihr stützt auf Kosten einer Minderheit?“

Das Wort Minderheit zu verwenden, fällt ihm schwer, wenn er an die vielen Millionen verfolgten Menschen denkt, die Falun-Gong-Praktizierenden, die Uiguren, die Tibeter, die Hongkonger und alle Bedrohten in Taiwan.

„Ich frage sie: Leute, was macht ihr? Welches System haltet ihr da aufrecht? Mit wie viel Gewalt vielen einzelnen Schicksalen gegenüber, für die ihr mitverantwortlich seid? Hört auf damit. Könnt ihr euch wirklich im Spiegel ansehen?“

Das liegt ihm am Herzen. Er wiederholt es und wiederholt es. „Könnt ihr das wirklich reinen Gewissens tun? Eure nigelnagelneuen Handys bedienen, eure Technik bedienen – für dieses System? Könnt ihr das wirklich, ohne ein schlechtes Gefühl zu haben, wenn ihr euch im Spiegel betrachtet?“

Auch wenn der Botschafter nicht zuhören möchte, ist es unmöglich, das Gesagte durch die Gestik, Mimik und Atmosphäre zu ignorieren. Alles ist vom kalten Gebäude aus sichtbar. Der Protest ist zudem viel zu heikel, als dass die vorgetäuschte Ignoranz auch tatsächlich umgesetzt würde. Man kann sich sicher sein: Jeder wird hier heute erfasst. Jeder, der seine Stimme erhebt. Jeder, der die westlichen Werte der Freiheit vertritt. Auch die Journalisten.

Die DDR-Staatsführung drohte: „Das machen wir auch“

Michael Heinisch-Kirch hat gerade noch in andere Mikrofone gesprochen. Der christliche Bürgerrechtler aus der DDR, heute Vorstandsvorsitzender der Robert-Havemann-Gesellschaft, hat sich dem Protestbrief angeschlossen. 2006 bis 2013 war er Vorsitzender der Fraktion Bündnis90/Die Grünen in Berlin-Lichtenberg, 2013 gegründete er die Stiftung „SozDia“. Bundespräsident Joachim Gauck zeichnete ihn zwei Jahre später mit dem Bundesverdienstkreuz aus. Warum ist er heute hier?

„China war 1989 ganz nah. Die DDR-Staatsführung hat sich solidarisiert mit den Verbrechern in China, die auf dem Tian’anmen die Menschen totgefahren haben. Damals drohte die DDR-Staatsführung ‚Wir machen das auch‘. Sie haben es zum Glück nicht gemacht. Aber es war dicht dran.“

Wenn sie es getan hätte, stünde er wohl heute nicht hier. Gerade deswegen hätten sie China im Auge behalten, fügt er hinzu. Sie wären regelmäßig vor Ort und überreichen Protestbriefe gegen Menschenrechtsverletzungen. „Es ist ein bisschen traurig, dass ich immer noch kommen muss.“

Ein chinesischer Mann stellt sich auf dem Changan Blvd. am Tian'anmen, dem Platz des Himmlischen Friedens, einem Konvoi von Panzern entgegen.

Ein chinesischer Mann stellt sich auf dem Changan Blvd. am Tian’anmen, dem Platz des Himmlischen Friedens, am 3. oder 4. Juni 1989 einem Konvoi von Panzern entgegen. Foto: Jeff Widener/AP/dpa

Angst vor Repressalien habe er nicht, die kalkuliere er mit ein: „Ich gehe davon aus, dass unser Engagement auch tatsächlich in China gesehen wird – aber das wollen wir ja.” Schon früher rechnete er damit, dass die DDR-Stasi kam. Ebenso kalkuliert er auch den chinesischen Geheimdienst mit ein.

An die Mitarbeiter der Botschaft richtet er einen Appell: „Man kann auch als Regime einfach abtreten und sagen, das wars. Und einfach die Menschen freilassen, die eingesperrt sind. Falun Dafa hat große Prinzipien, Wahrhaftigkeit, Güte und Nachsicht. Dem könnten die Menschen doch folgen und alles wäre gut.“

Heinisch-Kirch: „Die Kommunistische Partei Chinas hat abgewirtschaftet“

Bisher hat Peking weder auf eine Aufforderung des EU-Parlaments (2024/2504(RSP)) oder den Falun Gong Protection Act des US-Repräsentantenhauses reagiert. Dieser fordert Sanktionen gegen die Beteiligten der Verfolgung von Falun Gong durch die Kommunistische Partei Chinas.

Was bleibt, sind Fotos verfrorener DDR-Bürgerrechtler vom Tag der Menschenrechte 2024, die den Mut haben, das Ende der DDR als Vergleich für China heranzuziehen. Oder wie es Michael Heinisch-Kirch formulierte:

„Zur Zeit ist die Kommunistische Partei Chinas der Diktator dort. Ich denke, sie haben abgewirtschaftet. Mit dieser Partei wird das Volk keine demokratische Wendung schaffen. Deshalb ist die Forderung ganz klar, dass die Kommunistische Partei zurücktritt und die Macht an das Volk abgibt.“

Er ist sich sicher, dass die Antenne auf dem Dach – ein Kurzwellensender, er kennt sich da aus – dies schon nach Peking gesendet hat. Dabei war noch keiner von der Botschaft da, um den Brief aus dem Briefkasten zu holen.



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