Das Mädchen, das vom Himmel fiel – das Wunder von Juliane Koepcke
Es war der 24. Dezember 1971, Heiligabend. Der Flug 508 der peruanischen Airline LANSA verschwand plötzlich vom Radar. Er befand sich auf dem Weg von Lima nach Pucallpa. Die Suche nach dem Flugzeug blieb erfolglos. Nach zehn Tagen wurde die Nachforschungen abgebrochen und alle 92 Passagiere und Besatzungsmitglieder für tot erklärt.
Doch am elften Tag erschien ein blondes, 17-jähriges Mädchen in einem dünnen Minikleidchen und mit nur einer Sandale aus dem peruanischen Amazonas. Es war Juliane Koepcke – die einzige Überlebende der Flugzeugkatastrophe.
Aufwachsen im Einklang mit der Natur
Juliane Koepcke war die Tochter von zwei deutschen Biologen, die in Peru den Regenwald erforschten. Sie wuchs auf der Forschungsstation Panguana mitten im Dschungel auf. Das Wissen und die Fertigkeiten, die sie sich in ihrer Kindheit aneignete, sollten ihr später das Leben retten.
Als sie älter wurde, schickten ihre Eltern sie auf eine deutsche Schule in der Hauptstadt Lima. In den Weihnachtsferien kam ihre Mutter immer zu Besuch; gemeinsam flogen sie dann nach Pucallpa und fuhren von dort weiter in den Urwald zur Station. Das geschah auch an dem verhängnisvollen Tag.
Das Mädchen, das vom Himmel fiel
Am Mittag des 24. Dezembers bestiegen Mutter und Tochter und 90 weitere Passagiere das Flugzeug. Sie hielten sich für die Glücklichen, die rechtzeitig zu Weihnachten zuhause sein würden. Julianes Mutter saß neben ihr.
Rund 30 Minuten später geriet der Flieger in eine Gewitterfront. Statt dem Sturm auszuweichen, flog der Pilot durch ihn hindurch, denn er wollte sich vor den Feiertagen nicht verspäten. Eine tödliche Entscheidung.
Schwere Turbulenzen durchschüttelten die Maschine, starker Regen schlug auf die Fenster. Plötzlich leuchtete es auf: Ein Blitz traf das rechte Triebwerk und riss den rechten Flügel in Stücke. Das Flugzeug begann einen Sturzflug auf den Dschungel und zerfiel langsam in seine Einzelteile.
Ein umfliegendes Trümmerteil traf das Fenster, an dem Juliane saß, und zerbrach es. Der Sturm riss ein Loch in die Außenwand; Gepäckstücke flogen durch die Kabine, Menschen schrien, Kinder weinten – und dann blies nur noch der Wind.
Julianes Dreiersitz war hinausgeschleudert worden und fiel wie ein kreiselnder Ahornsamen von drei Kilometern Höhe in die Tiefe. Starke Aufwinde verlangsamten ihren Fall. Ihre Mutter war verschwunden und unter ihr die Baumkronen, die immer näher kamen.
Da verlor Juliane Koepcke das Bewusstsein. Ihr Sturzflug ging aber weiter. Schließlich erreichte sie den Amazonas. Die Äste der Bäume verlangsamten ihren Flug, ihr Sitz verfing sich in Lianen, die dem Sturz nur wenige Meter über dem Boden ein Ende setzten.
Alle Hoffnung scheint verloren
Einen Tag später kam die junge Frau wieder zu Bewusstsein. Sie lag auf dem Waldboden. Ihr ganzer Körper war mit Wunden übersät: Durch den Sturz hatte sie sich viele kleine Kratzer zugezogen; das Kreuzband war gerissen und ihr Schlüsselbein gebrochen. Außerdem hatte sie eine Gehirnerschütterung und ein geschwollenes Auge.
Juliane verstand, was passiert war. Sie war ganz allein, fühlte sich hilflos und vollkommen einsam. Sie suchte nach ihrer Mutter, konnte sie aber nicht finden.
Es regnete in Strömen. Die junge Frau kroch unter den Sitz, um sich vor dem Sturzregen zu schützen. Durchnässt, erschöpft und blutend verharrte sie so bis zum nächsten Morgen. Vier Tage lang erkundete sie die Umgebung, bis sie eine Sitzreihe mit drei Leichen fand. Sie steckten mit ihren Füßen im Boden.
An dieser Stelle fand sie eine Tüte Süßigkeiten. Sie hatte zwar keinen Hunger, wusste aber, dass sie wenigstens etwas essen sollte, um Energie zu haben.
In den ersten Tagen nach dem Absturz vernahm sie mehrmals den Lärm von Hubschraubern. Diese suchten nach dem Flugzeug und orientierten sich an der Stelle, an welcher der letzte Kontakt mit dem Flieger bestanden hatte.
Der Suchtrupp konnte Juliane jedoch nicht entdecken. Auch sie sah sie nicht, denn die Baumwipfel über der Absturzstelle standen dicht an dicht und versperrten jede Sicht.
Dem Wasser hinterher
Als der Lärm der Hubschrauber sich immer weiter entfernte, verstand die 17-Jährige, dass sie keine Hilfe zu erwarten hatte. Ihre einzige Überlebenschance bestand darin, selbst nach Rettung zu suchen. In dieser Situation erinnerte sie sich an eine Geschichte, die ihr ihr Vater vor langer Zeit erzählt hatte.
Einmal fand eine amerikanische Expedition im peruanischen Dschungel statt. Es gab einen Unfall und die Amerikaner schickten den jüngsten Expeditionsteilnehmer los, um Hilfe zu holen. Dieser Mann verirrte sich zuerst im Urwald, fand aber schließlich Menschen. Er schaffte das, indem er einem Bach folgte.
Wer sich im tiefen Wald verirrt, sollte nach einer Wasserquelle suchen. Das ist eine sichere Möglichkeit, auf andere Menschen zu stoßen. Dieses Wasser führt zu einem Bach, welcher in einem größeren mündet. Dieser fließt in einen Fluss, an dem wahrscheinlich Menschen leben.
Als ihr die Geschichte durch den Kopf ging, fasste Juliane den kühnen Entschluss, alleine ihren Weg aus dem Amazonas zu suchen. Sie hatte zuvor bereits eine kleine Quelle gefunden.
Ohne ihre Brille sah sie nur verschwommen und das Gehen fiel ihr schwer. Sie fand einen Stock, den sie als Krücke nutzte. Mit diesem und mit den gefundenen Süßigkeiten ausgerüstet, hopste sie durch den Regenwald, immer dem Wasser hinterher.
Die Odyssee durch den Dschungel
Dieses Bächlein führte sie an einen größeren Bach und schließlich an einen kleinen Fluss. Zu diesem Zeitpunkt war die junge Frau schon mehrere Tage unterwegs.
Jeden Tag aß sie einige Süßigkeiten und trank aus großen Blättern, in denen sich Regenwasser angesammelt hatte. In der Nacht schlief sie mit ihrem Rücken an einen Baumstamm oder Stein gelehnt und mit Laub bedeckt. Wenn der eiskalte Regen sie nicht die ganze Nacht wachhielt, dann waren es die Mücken, die sie bei lebendigem Leib regelrecht auffraßen.
Viele ihrer Kratzer verheilten schon, ein Auge war jedoch so stark geschwollen, dass sie mit ihm nichts mehr sah. Das größte Problem bereitete die offene Wunde an ihrem rechten Arm.
In tropischen Gebieten müssen offene Wunden sofort behandelt und verbunden werden. Sonst legen Fleischfliegen ihre Eier darin ab, aus denen nach einem Tag Maden schlüpfen, die das Fleisch ihres Wirtes fressen.
Genau damit hatte Juliane zu kämpfen: Ihr Arm war voller weißer Maden, die an ihr nagten und ein Loch in ihr Fleisch bohrten. Sie versuchte sie mit einer selbst gemachten Pinzette zu entfernen, doch ohne Erfolg.
Neben ihren körperlichen Beschwerden musste sie sich noch vor Krokodilen und giftigen Tieren in Acht nehmen, dazu gehörten nicht nur Giftschlangen, sondern auch kleine Süßwasser-Stechrochen. Diese leben im Regenwald im seichten Wasser. Ein Stich von ihnen kann tödlich sein.
Um nicht gestochen zu werden, stocherte Juliane mit ihrem Stock vor ihren Füßen ständig im Wasser herum. So bewegte sie sich Zentimeter um Zentimeter durch den Dschungel.
Endlich menschliche Spuren!
Als sie einige Tage später schließlich an dem Fluss Ucayali ankam, waren die Süßigkeiten aufgebraucht und sie war so erschöpft, dass sie nicht mehr laufen konnte.
Also fasste sie erneut einen kühnen Entschluss: Sie schwamm in den Fluss, legte sich auf den Rücken und ließ sich von der Strömung treiben. Sie wusste, dass Piranhas und Krokodile normalerweise keine Menschen angreifen und versuchte deshalb erneut ihr Glück.
So trieb Juliane mehrere Tage durch den Amazonas, umgeben von Krokodilen. Am elften Tag ihrer Reise sah sie in einiger Entfernung ein Boot. Zuerst dachte sie, dass sie vor Erschöpfung halluziniere. Sie fasste nach dem Boot – es war echt!
Es lag am Ufer, von dem ein Pfad einige Meter zu einem Häuschen führte. Sie ging am Boot vorbei und kroch den Hügel hoch. Den Weg, für den eine gesunde Person nur wenige Minuten braucht, schaffte Juliane erst nach einigen Stunden.
Das Häuschen, das sie erblickte, war eine Hütte für Holzfäller. Ein Dieselkanister fiel ihr ins Auge. Da erinnerte sie sich an ein Erlebnis aus ihrer Kindheit: Sie hatte als kleines Mädchen einen Hund. Dieser hatte sich verletzt, woraufhin Fliegen Eier in seine Wunde legten. Um die Maden loszuwerden, begoss Julianes Vater den Hund mit Kerosin.
Entschlossen schraubte die junge Frau den Verschluss des Kanisters auf und begoss ihre kriechenden Parasiten mit Diesel – und verlor vor Schmerz fast das Bewusstsein. Als der Schmerz nachließ, zog sie mit ihren Fingern eine Made nach der anderen aus ihrer Wunde. 30 sollten es werden, weitere 20 entfernte später ein Arzt.
Die erhoffte Rettung
Nach getaner Arbeit legte sich Juliane in der Hütte auf den Boden und schlief erschöpft ein. Menschliche Stimmen weckten sie am zwölften Tag ihrer Odyssee. Es waren drei Holzfäller, die aus dem Wald kamen. Als sie das blonde Mädchen erblickten, abgemagert, blutüberströmt und voller Schlamm, hielten sie es für ein Gespenst und liefen erschrocken zum Wald zurück.
Doch Juliane rief ihnen hinterher und erklärte, dass sie aus dem abgestürzten Flugzeug stammte. Sie hatten im Radio davon gehört. Also packten sie die junge Frau in ihr Boot und brachten sie in die nächstgelegene Siedlung. Dort wurde sie ärztlich versorgt.
Von da flog man sie in ein Krankenhaus in Pucallpa, wo sie ihren Vater wiedersah. Mit Julianes Hilfe konnten die Rettungskräfte schließlich einige Teile des Flugzeugs finden – sie waren in einem Radius von vielen Kilometern verstreut. Der starke Regen hatte jegliches Feuer, dass durch den Sturz verursacht wurde, gelöscht.
Der Suchtrupp fand auch andere Passagiere, Überlebende gab es jedoch nicht. Wer den Absturz auf wundersame Weise überlebt hatte, erlag später seinen Verletzungen.
Fast 30 Jahre später
Julianes unglaubliche Geschichte erregte weltweit Aufmerksamkeit. Journalisten belagerten das Krankenhaus, in dem sich die junge Frau von den Strapazen erholte. Sie gab zahlreiche Interviews, erschien im Fernsehen und auf den Titelbildern internationaler Zeitschriften. Ihr Abenteuer wurde mehrmals verfilmt.
Mit der Zeit wurde es jedoch ruhiger um die junge Frau: Sie lehnte alle Interviewanfragen ab und verschwand aus dem Rampenlicht, bis der deutsche Regisseur Werner Herzog sie kontaktierte.
An dem verhängnisvollen Tag hätte er mit Juliane in dem gleichen Flieger sitzen können, der Flug war jedoch bereits ausgebucht.
1998 bekam Herzog Juliane vor die Kamera, welche zu diesem Zeitpunkt 44 Jahre alt und eine promovierte Biologin war. Er überzeugte sie, zur Absturzstelle zurückzukehren und ihm den Weg zu zeigen, den sie damals nach dem freien Fall aus dem Himmel hinter sich legte.
In Herzogs Dokumentarfilm „Wings of Hope“ („Schwingen der Hoffnung“. Deutscher Titel: „Julianes Sturz in den Dschungel“) erzählt Juliane ganz nüchtern und ohne Pathos von ihrem Überlebenskampf. Der Film erschien im Jahr 2000 und ist auf YouTube in englischer Synchronfassung zu sehen.
Im Jahr 2011 veröffentlichte Juliane das Buch „Als ich vom Himmel fiel: Wie mir der Dschungel mein Leben zurückgab“. Darin lässt sie ihren Absturz und ihre Odyssee noch einmal Revue passieren und behandelt auch ihr Leben nach der Katastrophe.
Wenn man sich die Kommentare unter dem Video und dem Buch ansieht, so ist die Geschichte von Julianes grenzenlosem Mut bis heute für viele eine große Kraft- und Inspirationsquelle. Sie zeigt, dass selbst in den dunkelsten Momenten Hoffnung besteht, solange man sich ein Herz fasst und nicht aufgibt.
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