Immer mehr Lehrer quittieren den Dienst – wenn der Traumberuf zum Albtraum wird
Kali Kyretsis Traum ist geplatzt. Schon als Kind wollte sie Lehrerin werden. Ihr Studium zog sie trotz Corona-Pandemie fast in der Regelstudienzeit durch. Doch als sie mit 24 Jahren ins Referendariat startete, stieg der Druck. Das hohe Arbeitspensum und der Lehrermangel machten ihr schwer zu schaffen. Dazu kamen noch psychische Belastungen der Schüler, mit denen sie konfrontiert, aber nicht ausgebildet war, mit umzugehen. Mit der Zeit reifte der Entschluss: So geht es nicht weiter. Das lag jedoch nicht an den Schülern, sondern am Bildungssystem, erklärte sie der ZDF-Sendung „34 Grad“.
Die 27-Jährige ist kein Einzelfall. Immer mehr Lehrer entscheiden sich, ihren Beruf an den Nagel zu hängen.
Wie aus einer Antwort des Kultusministeriums auf einen Antrag der FDP hervorgeht, haben im Jahr 2024 (Stand 7. Oktober) in Baden-Württemberg 434 Lehrer ihren Dienst quittiert, darunter 199 Beamte. Das sind über 300 mehr als im Jahr 2014 (132). Dabei sind Lehrer im Alter von über 63 Jahren und solche, die unmittelbar vor ihrem Ausscheiden beurlaubt wurden, nicht in der Statistik enthalten.
Welche Gründe die Lehrer bewogen haben, aus dem Beamtenverhältnis auszusteigen oder zu kündigen, muss laut Landesregierung gegenüber dem Dienstherrn oder Arbeitgeber nicht offengelegt werden. Eine systematische Erhebung der Gründe erfolge nicht. Diese könnten jedoch vielfältig sein.
Der Landtagsabgeordnete und Bildungsexperte der FDP/DVP-Fraktion Timm Kern, der die Zahlen beim Kultusministerium angefordert hatte, sprach von einem „Alarmsignal“. Für ihn lägen die Gründe für die vermehrten Kündigungen auf der Hand: zu viel Bürokratie, neue pädagogische Projekte, fehlende Wertschätzung und zu wenige Lehrer pro Schüler.
Aber es gebe auch Fälle, in denen Lehrer ihren „so wertvollen Dienst trotz aller Umstände mit ganzem Herzen weiter leisten“ – bis es irgendwann nicht mehr ginge. Psychische Erkrankungen seien unter Lehrern keine Seltenheit und viele sähen am Ende nur eine Option: ihre Entlassung.
In Nordrhein-Westfalen gaben im Jahr 2023 rund 320 verbeamtete Lehrer ihren Beruf auf. Das Schulministerium sprach von einem „minimalen“ Anstieg der Kündigungen. Arbeitsplatzwechsel seien in allen Branchen normal, hieß es. Im Jahr 2022 kündigten 286 verbeamtete Lehrer ihren Beruf.
Glückliche Ex-Studienrätin berät Lehrer
Für viele ist der Weg vom einst ergriffenen Traumjob bis zu dessen Aufgabe ein schleichender Prozess. Nicht alle bemerken wie Kyretsi schon während des Referendariats, dass der Lehreralltag nichts mit ihren Vorstellungen von Bildung zu tun hat.
„Das Thema Lehrerausstieg ist unter Lehrkräften weithin tabuisiert, von Scham, Schuldgefühlen, Angst, Trauer, Wut und Ohnmacht begleitet. Lehrkräfte tragen somit ihre berufliche Krise meist im Verborgenen aus“, schilderte die ehemals verbeamtete Studienrätin Isabell Probst im Rahmen einer Anhörung des Bildungsausschusses des Landtags in NRW im August 2023.
Sie muss es wissen, denn nach ihrem Ausstieg im April 2015 – auf ihrer Website beschreibt sie sich als „glückliche Ex-Studienrätin“ – baute sie sich ein neues Standbein auf. Seit 2018 berät sie mit ihrem Team als systemischer Laufbahncoach Lehrer in beruflichen Krisen aus ganz Deutschland. Doch nicht alle kehren der Schule den Rücken zu. Manche revidieren während des Coachingprozesses ihre Entscheidung, den Schuldienst zu verlassen.
In ihren Beratungen trifft das Team auf Lehrkräfte aus allen Schulformen; 85 Prozent davon sind Frauen, 80 Prozent verbeamtet. Die Altersspanne reicht von 27 bis 55.
Von Arbeitsschutz bis Wertschätzung – Fehlanzeige
Charakteristisch für den Lehrerberuf sind laut Probst Verletzungen des Arbeitsschutzes, wie dauerhafte Lärmbelastung, Schadstoffbelastungen von Gebäuden, Nichterfassung von Arbeitszeit und Überstunden, nicht eingehaltene gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeiten, aber auch Mobbing, Bedrohungen und Übergriffe.
Hinzu kommen noch mangelnde Wertschätzung durch den Dienstherren und bürokratische „Entmenschlichung“ von Lehrpersonen, verbunden mit einem „würdelosen Entlassungsverfahren“.
Lehrer seien ursprünglich angetreten, um das Potenzial der Schüler zu fördern, freudvolles Lernen zu initiieren, kreative Prozesse und kritisches Denken anzustoßen, erklärte Probst. Im Schulalltag hingegen würden sie konfrontiert mit Verwaltungsaufgaben, Leistungsmessung und einem „Hinterherhetzen von Lehrplänen“, sodass sie ihrem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden können. Dabei verweist sie auf den Umstand, dass an deutschen Schulen lediglich 17 Prozent aller Entscheidungen vor Ort getroffen werden, 83 Prozent hingegen auf höheren Verwaltungsebenen.
Wie groß der Frust unter Lehrern ist, zeigt sich laut Probst aber nicht nur in den Kündigungen, sondern auch in einschlägigen Gruppen in den sozialen Medien, in denen sich rund 30.000 Lehrkräfte und ehemalige Lehrer zu Möglichkeiten des Berufswechsels austauschen. Gewerkschaften und Verbände würden von einem Ansturm von Lehrkräften berichten, die sich zu Kündigungsbedingungen informieren möchten, und auch bei Psychotherapeuten und privaten Coaches steige die Anzahl der Hilfe suchenden Lehrer.
Der Lehrer als Patient
Für Psychotherapeuten stellt die Arbeit mit Lehrern eine besondere Herausforderung dar. Wie das „Ärzteblatt“ berichtet, gelten Lehrer als „schwierige Patienten“.
„Während andere Patienten in der ersten Sitzung oft unter Tränen ihr Leid klagen, legt die Lehrerin dem Therapeuten rationale Erklärungen vor und erläutert, dass eigentlich außer der plötzlichen Symptomatik alles völlig in Ordnung und sie ausgesprochen gern Lehrerin sei“, schildert der Psychotherapeut Michael Mehrgardt.
Nach Aussage des Therapeuten haben Lehrer jedoch selbst bei Basisbedürfnissen, die für andere Berufsgruppen selbstverständlich sind, ein Nachsehen. Eine an Thrombose erkrankte Lehrerin könne beispielsweise nicht annähernd die vom Arzt geforderte Menge trinken, weil sie nicht ständig zur Toilette gehen könne. Und wenn es in einem Klassenraum mit 30 Schülern drunter und drüber gehe, werde die Schuld beim Lehrer gesucht. Wie hoch der Anteil von Lernbehinderten, Migranten oder verhaltensauffälligen Schülern ist, frage niemand.
Die hohe Belastung der Lehrer führt Mehrgardt unter anderem auf eine andauernde sensorische Überstimulation zurück, die daraus resultiere, dass Lehrer ständig, auch in Pausen, von vielen Menschen umgeben seien – ob im Klassenraum, im Lehrerzimmer oder auf dem Schulhof. Dies erfordere ständige physische, psychische und geistige Arbeit und verbrauche Energie.
„Nach dem Schultag, zu Beginn des Urlaubs oder des Ruhestands verfällt der Lehrer, kaum verwunderlich, in das ‚Pädagogenkoma‘, einen als bleischwere Müdigkeit beschriebenen Zustand“, so Mehrgardt weiter. Die negative Wirkung der Überstimulation – die auch dann vorhanden ist, wenn eine Situation als positiv erlebt wird – werde in der Regel nicht wahrgenommen.
Neubeginn jenseits der Schule
Kyretsi hingegen hat schon früh bemerkt, dass sie innerhalb dieses Schulsystems niemals zu 100 Prozent die Lehrerin sein kann, die sie sein wollte. Inzwischen hat sie neuen Anschluss gefunden. Im Team von Probst entwickelt sie mit Ratsuchenden persönliche Jobzufriedenheitsstrategien. Auf diese Weise lebt sie ihren Traum, Menschen in ihrer Selbstfindung zu unterstützen, außerhalb des Schulsystems aus.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion