Bertelsmann-Studie: Union und Ampel verlieren Milieus der Mitte – an AfD, BSW und Wahlenthaltung

Die Ampelparteien sowie die Union werden immer mehr zur politischen Vertretung der Oberschicht. Demgegenüber verlieren sie zunehmend das Vertrauen der gesellschaftlichen Mitte. Bei Wahlen schlägt sich dies in größerem Zuspruch für AfD und BSW oder höherer Wahlenthaltung nieder.
Titelbild
Es ist nicht mehr das Deutschland der Schröder- und „Sommermärchen“-Ära – im „nostalgisch-bürgerlichen“ Milieu der Mitte wird die Entwicklung als bedrohlich wahrgenommen.Foto: Marcus Brandt/dpa
Von 11. April 2024

Ist das in der alten Bundesrepublik gewachsene Parteiensystem nur noch eine exklusive Echokammer der Oberschichten? Eine jüngst veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt einen stabilen Rückhalt für die Ampelparteien und für die Union in den vier gehobenen Sinus-Milieus. Allerdings offenbart sich ein drastischer Einbruch des Vertrauens in zwei wesentlichen Milieus der bürgerlichen Mitte: nämlich unter den „Nostalgisch-Bürgerlichen“ und den „Adaptiv-Pragmatischen“. Dort gewinnen AfD und BSW an Boden, und die Bereitschaft zur Wahlbeteiligung sinkt.

Bislang spielte die AfD nur im „traditionellen“ Milieu der Mitte eine Rolle

Noch bei der Bundestagswahl 2021 hatten Union, SPD, FDP und Grüne in acht von zehn Sinus-Milieus die Szenerie dominiert. Die AfD als nicht-systemische Opposition spielte nur in zweien eine nennenswerte Rolle. Mit 27 Prozent war sie unter den sogenannten Prekären die stärkste Kraft vor Union (16) und Linkspartei (13). Außerdem war sie mit 16 Prozent drittstärkste Kraft im „traditionellen“ Milieu – das die mittlere und Teile der unteren Mittelschicht umfasst. In dieser eher älteren Bevölkerungsgruppe kam die Union auf 34 und die SPD auf 18 Prozent.

Mittlerweile haben sich aber auch in den an „Modernisierung“ orientierten Milieus der Mittelschicht deutliche Verschiebungen gezeigt. Das eine davon ist das „nostalgisch-bürgerliche“. Dort blicken nur noch 26 Prozent der Menschen optimistisch in die Zukunft. Gegenüber 2022 ist das ein Minus von 19 Prozentpunkten, so die Studie. Unter allen Befragten betrug der Rückgang zehn Prozentpunkte.

Die Menschen in diesem Milieu lehnen Veränderungen nicht grundsätzlich ab und waren aufstiegsorientiert. Ihre Vorstellung von Normalität ist jene der 2000er-Jahre, als der Eindruck vorherrschte, Disziplin, Engagement und Anstrengung würden mit einem angemessenen Lebensstandard belohnt.

„Nostalgisch-Bürgerliche“ fühlen sich durch politisch verordnete „Transformation“ bedrängt

Mittlerweile haben Krisen und Herausforderungen diesen grundsätzlichen Optimismus und Vertrauensvorschuss gegenüber dem Gemeinwesen in der „Sommermärchen-“ und „Hartz-Reformen-Generation“ jedoch empfindlich gedrosselt. Dazu kommt der zunehmende Eindruck, „Transformationen“ aufgezwungen zu bekommen, die das Erarbeitete potenziell bedrohen – ohne um Zustimmung dazu gefragt worden zu sein.

Die „Nostalgisch-Bürgerlichen“ sehen sich selbst als die Mitte der Gesellschaft, die sie noch in den 2000ern waren. Allerdings fühlen sie sich bedrängt durch Veränderungsappelle unter dem Banner des „Klimaschutzes“ oder der „Geschlechtergerechtigkeit“. Darauf reagieren sie mit einem Festhalten an vertrauten Regeln – und sind zu Veränderungen nur noch bereit, wenn diese zumindest den Status quo erhalten.

Die Parteien der Ampel haben seit der Bundestagswahl im Segment der „Nostalgisch-Bürgerlichen“ insgesamt 29 Prozent an Zustimmung verloren. Gleichzeitig konnte die Union davon kaum profitieren. Sie legte in diesem Segment lediglich um sieben Prozent zu.

Derzeit würden alle Ampelparteien in diesem Milieu zusammen auf nur noch 17 Prozent kommen. Die Union wäre mit 28 Prozent nur zweitstärkste Kraft hinter der AfD, die sich von 19 auf 34 Prozent steigern würde. Das „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) käme aus dem Stand auf neun Prozent.

„Adaptiv-Pragmatische“ sehen Leistungsversprechen der Politik nicht erfüllt

Noch aufgeschlossener gegenüber angemahnter Veränderungen sind grundsätzlich die „Adaptiv-Pragmatischen“. Von ihnen hatten 2021 noch 48 Prozent Ampel-Parteien gewählt und 27 Prozent die Union. Faktisch gleichauf mit dieser lagen die Grünen.

Mittlerweile ist der Anteil der Zukunftsoptimisten unter ihnen von 70 auf 50 Prozent gesunken. Auch in diesem laut Sinus-Definition als „moderner Mainstream“ bezeichneten Milieu würden mittlerweile nur noch 28 Prozent Ampelparteien wählen. Die Union würde nur drei Prozent auf 30 zulegen. Demgegenüber käme die AfD auf 27 Prozent (plus 14). Das BSW bliebe mit vier Prozent unter dem Durchschnitt.

Die „Adaptiv-Pragmatischen“ sind der Studie zufolge durchaus bereit, von der Politik vorgegebene Paradigmen zu akzeptieren. Allerdings setzen sie dabei voraus, dass diese die gegebenen Erfolgsversprechen erfülle und wisse, was zu tun sei.

Dies wird im Fall der Ampel jedoch nicht wahrgenommen – und die stark auf Funktionieren ausgerichteten „Adaptiv-Pragmatischen“ nehmen ihr das übel. Dies umso mehr, als sie selbst „in der Rushhour ihres Lebens“ stünden, aber gleichzeitig zunehmend mit zunehmenden dysfunktionalen Elementen im Gemeinwesen konfrontiert seien.

Mitte sieht eigene Situation noch stabil – hat aber Angst vor der Zukunft

In beiden Milieus, so die Studie, gehe „nachlassender Optimismus“ mit „einer wachsenden Offenheit für rechtspopulistisches Agenda-Setting einher“. Die persönliche Lebenszufriedenheit in beiden Milieus sei intakt, allerdings wachse die Angst vor der Zukunft.

Dazu kommt der Eindruck, von der Politik vernachlässigt zu werden. Während es für die vier Oberschichtmilieus kein Problem sei, die finanziellen Folgen der ökologischen Transformation zu stemmen, würden die Ärmsten immerhin Subventionen erhalten. Die Mitte hingegen werde belastet, ohne überhaupt nach den Folgen für sie gefragt zu werden.

Obwohl die beiden Mitte-Milieus Verschuldung als problematisch betrachten, zeigt sich eine gewisse Sympathie für eine Modifikation der Schuldenbremse. Von allen Befragten sprechen sich 73 Prozent für Ausnahmen von der Regel aus, um Investitionen in Infrastruktur oder Klimamaßnahmen zu ermöglichen. Von den „Adaptiv-Pragmatischen“ sind es 65 und von den „Nostalgisch-Bürgerlichen“ 70 Prozent. Letztgenannte differenzieren jedoch sehr stark nach dem Zweck einer Schuldenaufnahme.

Wahlbeteiligung in der Oberschicht deutlich höher

Weitgehend ungebrochen ist das Vertrauen in die Parteien der alten Bundesrepublik bei den vier Oberschichtmilieus. Bei den „Expeditiven“ und den „Post-Materiellen“ liegen die Grünen mit großem Abstand voran, bei den „Performern“ ist auch die FDP stark, die Union im „konservativ-gehobenen“ Milieu. In diesen vier Milieus ist auch die Bereitschaft, zur Wahl zu gehen, mit 85 Prozent am höchsten.

Die sechs weiteren Milieus der Mittel- und Unterschicht weisen hingegen lediglich eine Wahlbeteiligung von durchschnittlich 70 Prozent auf. Am Ende trägt auch dies dazu bei, dass die Politik in Deutschland im Ergebnis in erster Linie von der Oberschicht bestimmt wird.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion