„92 Tage“-Kampagne: Wie Studenten den Wahlausgang in Thüringen beeinflussen können
Die Hochschulen in Thüringen fordern momentan ihre Studenten dazu auf, ihren Hauptwohnsitz im Land anzumelden. Nur so könne man an den kommenden Wahlen teilnehmen, so die Begründung.
Der Titel der Kampagne der Hochschulen lautet „92 Tage“ – aus gutem Grund. Nur wer drei Monate vor der Wahl seinen Hauptwohnsitz in Thüringen hat, kann bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni oder bei der Landtagswahl im Herbst wahlberechtigt teilnehmen.
Demokratie und freiheitliche Grundordnung stützen
Auf der Website der Kampagne kann man zur Begründung der Aktion lesen:
„’92 Tage’ ist eine Initiative der Thüringer Hochschulen, um die Demokratie in diesem Bundesland und unsere freiheitliche Grundordnung zu stützen.“
Als Belohnung für Studenten, sich an ihrem Studienort mit dem Hauptwohnsitz anzumelden, benennt die Seite vorwiegend finanzielle Anreize. „In vielen Thüringer Orten erhalten Studierende sogar eine Prämie, wenn sie sich in der Gemeinde anmelden“, schreiben die Verantwortlichen.
Die Hauptwohnsitzprämie hat allerdings nichts mit der Kampagne zu tun. Diese gibt es in den Städten, wie etwa Jena oder Gera, schon seit Jahren. Es ist eine Strategie, um unter anderem den Großstadtstatus zu festigen oder finanzielle Zuweisungen von Land und Bund zu sichern. Auch Hochschulstädte wie Bamberg, Bremen oder Kiel gewähren das sogenannte „Begrüßungsgeld“ für Studenten.
So erhalten Studenten in Gera beispielsweise 100 Euro im Jahr für einen Wohnortwechsel; Ilmenau zahlt jährlich 80 Euro und Jena maximal 120 Euro, wobei nicht deutlich wird, ob es sich hier um eine einmalige Zahlung handelt. Schmalkalden zahlt wohnortwechselnden Studenten 50 Euro pro Semester und in Weimar gibt es für diese Studenten einmalig 300 Euro. Mit nur zwei Klicks von der Kampagnenseite aus kann man das Meldeformular und die Wohnungsgeberbestätigung herunterladen. Beide Bescheinigungen benötigt man, um den Hauptwohnsitz beim Bürgeramt anzumelden.
Viele Thüringer Hochschulen inzwischen dabei
Verantwortlich für die Kampagnenseite ist laut dem Impressum die „Bauhaus-Universität Weimar“.
Der Professor für Bild-Text-Konzeption, Burkhart von Scheven, lässt sich auf der Website der Universität Erfurt zitieren:
„Viele Studierende haben sich zwar bewusst für ein Studium in Thüringen entschieden, melden sich aber nie in ihrer Stadt oder Gemeinde an. Dieses unausgeschöpfte Stimmpotenzial haben wir erkannt und möchten es gezielt ansprechen.“
An der Kampagne beteiligen sich inzwischen folgende Einrichtungen:
- Fachhochschule Erfurt
- Universität Erfurt
- Ernst-Abbe-Hochschule Jena
- Friedrich-Schiller-Universität Jena
- Hochschule Nordhausen
- Hochschule Schmalkalden
- Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar
Alle diese Hochschulen verbreiten Postings über ihre Hochschulkanäle in den sozialen Netzwerken und ihren eigenen Websites. Gegenwärtig konzentriert sich die Kampagne auf die thüringische Kommunalwahl am 26. Mai. Doch die Macher der Kampagnen denken weiter, schaut man auf den Kampagnentext auf der Website der Universität Erfurt. Dort kann man lesen: „Auch für die später anstehende Europawahl im Juni und die Landtagswahl am 1. September 2024 sollen die Plattformen mit der ‚92-Tage-Botschaft‘ bespielt werden.“
AfD im Blick der Kampagne?
Laut jüngster Umfrage vom 17. Januar würden 33,3 Prozent der Wahlberechtigten Thüringen im Herbst der AfD ihre Stimme geben. Damit wäre die AfD die im Abstand stärkste Partei, gefolgt von der CDU, die laut Umfrage auf 20 Prozent kommen würde. Die Linke mit ihrem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow würde mit 15,9 Prozent auf dem dritten Platz landen.
Die heutigen Koalitionspartner SPD und Grüne müssten sich mit 7,4 beziehungsweise fünf Prozent der Stimmen begnügen. Die Grünen müssten damit um den Wiedereinzug in den Landtag zittern. Die FDP wäre nach derzeitigen Umfragen mit drei Prozent raus aus dem Landtag. Auf Anhieb würde allerdings das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) mit derzeit 11,1 Prozent in den Landtag einziehen.
Die „92-Tage“-Kampagne sei ausdrücklich nicht parteipolitisch angelegt, betont Professor von Scheven gegenüber dem Magazin „Spiegel“ (hinter einer Bezahlschranke). Trotzdem wollten die thüringischen Hochschulen darauf hinweisen, wie wichtig internationale Studenten und Dozenten seien, genau wie Menschenrechte und Diversität, wird von Scheven im „Spiegel“ weiter zitiert. „Das sind für uns absolute Grundsätze, ohne sie wird unsere Arbeit schwierig“, so der Professor weiter. Und dann weiter: „Natürlich will ich nicht leugnen, dass mir die Prognosen für die anstehenden Landtagswahlen persönlich Sorgen machen.”
Im Moment gibt es keine Studien, die Auskunft geben, wie Studenten bei den letzten Wahlen abgestimmt haben. Eine Kurzanalyse der „Forschungsgruppe Wahlen“ lässt jedoch eine Richtung vermuten: Bei der Thüringer Landtagswahl 2019 wählten Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen deutlich seltener die AfD als Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen – 16 gegen 27 Prozent.
Erinnerungen an die Siebzigerjahre
Für Hochschulen gilt das Neutralitätsgebot. Der Politikwissenschaftler Professor Wolfgang Merkel sieht die Neutralität bei einer reinen Wahlaufforderung bislang nicht verletzt. Trotzdem schätzt er im „Spiegel“ die Aktion in Thüringen als problematisch ein. Es gäbe gute demokratische Gründe, sich am Hochschulort zur Wahl zu melden. „Wo man sich aufhält, wo man Adressat politischer Entscheidungen ist, soll man mitbestimmen können“, so Merkel, der im deutschsprachigen Raum zu den angesehensten Vertretern der sogenannten vergleichenden Politikwissenschaft gehört.
Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2020 war der Politikwissenschaftler Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professor für vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Merkel erinnert die Aktion der Hochschulen in Thüringen an frühere Kampagnen aus den Siebzigerjahren, wie er dem Spiegel erzählt. Diese seien damals allerdings von linken Studentengruppen ausgegangen. „Damals lautete die Botschaft: Meldet euch um, wir benötigen eure Stimmen für linke Positionen im Gemeinderat. Der große Unterschied ist, dass eine ähnliche Botschaft heute von einer staatlichen Institution kommt.“
Nicht parteipolitisch einmischen
Entscheidend, so Merkel, sei für ihn, mit welchem Ansinnen die Ummeldeempfehlung ausgesprochen wird. „Die Studierende sollen sich ja nicht ummelden, damit sie gute Bürger sind – das könnten sie auch in ihrem Heimatort sein“, sagt Merkel. „Es soll sich nur der Ort der Wahl ändern, und zwar deshalb, weil die AfD vor der Tür steht. Das will man mit der Aktion verhindern, auch wenn man es nicht explizit sagt.“ Für den Politikprofessor ist genau das ein Problem. Denn Institutionen wie Universitäten sollten sich nicht parteilich einmischen, da helfe auch eine „allgemeine demokratische Camouflage“ nichts.
Mitinitiator von Scheven möchte seine Aktion unterdessen über Thüringen hinaus ausbreiten. Wie er dem „Spiegel“ sagte, plane er Gespräche mit den Hochschulen in Sachsen und Brandenburg. Überall sei die Idee hinter „92 Tage“ wichtig. Sie sei auch kein rein ostdeutsches Problem, denn Wahlbeteiligung sei überall wichtig. Nur in diesem Jahr eben in den drei ostdeutschen Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg besonders, so von Scheven.
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