„Serotonin“ in Hamburg: Abgesang auf den alten, weißen Mann
Die Kultur der westlichen Welt geht in den Augen des französischen Autors Michel Houellebecq rasant den Bach hinunter. Für seine provokanten Komplettniedergangs-Geschichten erntet der Schriftsteller viel Lob und Ehre – aber auch harsche Kritik.
Im Bestsellerroman „Unterwerfung“ etwa zeichnet Houellebecq schwarz-satirisch die baldige Islamisierung Frankreichs. Und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg gelang mit einem von Intendantin Karin Beier inszenierten fulminanten Dreistunden-Solo des Darstellers Edgar Selge ein spektakulärer Erfolg, für den es den Theaterpreis „Der Faust“ gab.
Am Freitagabend hat die Saison 2019/20 am Schauspielhaus mit der Uraufführung von Houellebecqs neuestem Roman „Serotonin“ begonnen. Für die mit viel Schlussapplaus bedachte Version zeichnet als Verfasser und Regisseur Falk Richter verantwortlich. Er präsentiert eine grellbunt plakative Show mit jeder Menge Rockmusik von The Doors bis Nirwana (Bühne: Katrin Hoffmann, Musik: Matthias Grübel). Die Themenpalette beginnt mit der Verlorenheit und Bindungsunfähigkeit des älteren, weißen, heterosexuellen Manns. Sie endet mit dem blutigen Aufstand verzweifelter Milchbauern gegen die Landwirtschaftspolitik der EU und der Zerstörung der Natur.
Gleich vier Schauspieler geben den Protagonisten und Ich-Erzähler Florent – Jan-Peter Kampwirth, Carlo Ljubek, Tilman Strauß und Samuel Weiss. Wie Houellebecq im wahren Leben ist dieser diplomierter Agraringenieur. Und er steckt voller Frust und Neurosen. Die Einnahme eines Antidepressivums, das seinen Serotoninspiegel – also den des „Glückshormons“ – steigern soll, hat bedauerlicherweise zur Störung von Libido und Potenz geführt. So gerät der knapp dreistündige Abend zur reich bebilderten, mit markigem Retro-Sound angereicherten Erzählung gehäufter Niederlagen auf mehreren Feldern seines Lebens.
„Ich war nie etwas anderes gewesen als ein substanzloses Weichei“, lautet einer von Florents Kern-Erkenntnissätzen. Der Abend beginnt, nachdem der Arbeitslose an einer Tankstelle in Spanien wieder mal mit einem Flirtversuch gescheitert ist. Es folgen seine Erinnerungen an verpfuschte und von ihm so genannte Fick-Beziehungen zu vom Feminismus bewegten Frauen wie eine junge Japanerin und einer Verwaltungs-Praktikantin. Dabei gerät die Romandramatisierung eher narrativ als dramatisch. Richter steuert mit grotesk überzeichnenden Bühnenmitteln gegen, wobei seine Akteure, zu denen noch Sandra Gerling und Josefine Israel gehören, permanent die Rollen wechseln.
Da wird die Ex-Freundin und Jungschauspielerin Claire auf der Jagd nach Jobs schon mal mit falschem Riesenhintern und übergroßem Puppenkopf versehen. In anderen Momenten flimmern Amöben über Video-Leinwände. Geht es im ersten Teil des Abends um die verhunzte innere Natur moderner Menschen, so nimmt sich der zweite Teil großräumig Massentierhaltung, erzwungenen Landverkauf an ausländische Investoren und Hofsterben wegen miserabler Milchpreise vor. Das Bühnenbild arbeitet hier mit realistischen Elementen wie Reihen von Getreide. Aymeric, Florents altadeliger Studienfreund und Großgrundbesitzer, begehrt dagegen auf und wird zum Märtyrer.
Und der Protagonist bekennt zum Schluss im Affenkostüm seine wohl größte Sünde in einer Gesellschaft, die von der Illusion von Freiheit angetrieben sei: „Ich hatte keine Gutherzigkeit entwickelt.“ Mittlerweile erkenne er sogar „den Standpunkt Christi“ – der habe sich geärgert über „die Verhärtung der Herzen“. (dpa/sua)
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