Krähen bei Sonnenaufgang – Von Christian Morgenstern

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Titelbild
Nur zwei Gewitzte warten schlau, bis alles nach und nach verstoben, sie wissen einen nahen Bau, den gestern Jäger ausgehoben.Foto: iStock

Krähen bei Sonnenaufgang

Noch flieht der Blick des jungen Tags

der Berge nebelgraue Gipfel,
und schon entschwebt, gemessnen Schlags,
die erste Krähe ihrem Wipfel.

Der schwankt, befreit von schwerer Last,
daß rings die Zweige sich bewegen:
Fahlsilbern sprüht von Ast zu Ast
des Frühtaus feiner Flüsterregen.

Doch eh‘ sein Flüstern noch erstickt,
enttönt ein „Krah“ dem stillen Raume:
Der Vogel hat am Wolkensaume
das erste blasse Rot erblickt.

Auf allen Wipfeln wacht es auf
und schüttelt sich und ruft nach Taten …
In lautem Streiten und Beraten
erhebt sich endlich Hauf um Hauf.

Nur zwei Gewitzte warten schlau,
bis alles nach und nach verstoben,
sie wissen einen nahen Bau,
den gestern Jäger ausgehoben.

Ein Käuzleinflügel harrt hier noch,
die Kecken lecker zu belohnen –:
Das Paar umkreist erregt das Loch …
Braungolden glänzt das Meer der Kronen.

Christian Morgenstern  (1871 – 1914)



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