Die Unsichtbaren
Es gibt eine bestimmte Gattung von Texten. Die, die man in einem bestimmten Moment unbedingt schreiben will, weil sie sich einem aufdrängen und die Sätze ganz automatisch im Kopf aneinandergereiht werden. Die Hand zuckt reflexartig – schnell was zum Aufschreiben her. Stichwortartig wird alles notiert, man hat Angst, ein wichtiges Detail zu vergessen, weil die Gedanken so viel schneller sind als die Finger. Dann wird man vom Alltag unterbrochen und man muss die Gedanken in eine mentale Box legen, weil gerade keine Zeit mehr dafür ist. Auf der Box steht: „Später fertig machen“.
Und dann ist dieses Später und man holt die Gedanken aus der Box und merkt: Dieser bestimmte Moment ist verflogen. Stattdessen sind da Zweifel und Unsicherheit. Ist das wirklich relevant? Will das jemand lesen? Man fühlt sich unbehaglich beim Durchlesen der Notizen, weil sie so persönlich sind und so emotional. Ähnlich, wie wenn einem die Obdachlosen-Zeitung zum Kauf angeboten wird. Man weiß, man sollte eigentlich, aber irgendwie ist es in dem Moment am bequemsten nichts zu tun und stattdessen darüber nachzudenken, was man heute zu Abend isst. Der folgende Text fällt genau in diese Gattung – ich nenne sie „unbequeme Texte“ – und ich schreibe diese Geschichte auf, weil ich ständig in der Facebook-Timeline Sprüche lese wie: „Wenn du die Welt verändern willst, dann steh auf und handle!“ Und ich denke mir: Recht haben sie. Vielleicht sollte ich auch endlich mal anfangen zu handeln statt immer nur im Stillen zu denken, wie Scheiße alles ist.
In der prallen Sonne liegt er auf dem Fußgängerweg.
Die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Ein Arm ragt leblos auf das Kopfsteinpflaster. Seine Lippen sind aufgesprungen, die Haut braungegerbt von der Sonne, die Kleider löchrig. Seine struppigen grauen Haare wehen leicht im Wind. Neben einem zerknitterten Coffe-to-go-Becher steht eine Cola-Mix-Flasche und zwei Bananen liegen daneben, als hätte sie ihm jemand dort hingelegt. Ganz offensichtlich hat dieser Mann kein Zuhause und ganz offensichtlich geht es ihm nicht gut. Und obwohl er sehr prominent auf dem Gehweg liegt, im Zentrum einer deutschen Großstadt wo im Minutentakt hundert Menschen über das Pflaster laufen, scheint es, als sei er unsichtbar.
Die Fußgänger schauen durch ihn hindurch, kaum ein Blick bleibt an ihm kleben und wenn, dann nur für den Bruchteil einer Sekunde. Die Passanten lassen ihre Blicke an den Schaufenstern entlang schweifen, sie telefonieren, verputzen genüsslich ein Sandwich. Einmal steht einer Frau ein Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Sie runzelt kurz die Stirn, als würde sie sich fragen: „Lebt der noch?“ und sie scheint mit sich zu ringen, doch im nächsten Augenblick ist sie an ihm vorbei und heftet den Blick angestrengt nach vorn. Ein Paar diskutiert über die Abendplanung, eine Gruppe Asiaten läuft fröhlich schwatzend vorbei. Nicht einmal kleine Kinder bleiben stehen und fragen ihre Eltern, was mit dem Mann los ist. Sie sind viel zu beschäftigt mit ihrem Pistazien-Eis.
Einige Meter von dem Mann entfernt, direkt am Bordstein steht eine nervöse Frau. Sie wippt ungeduldig von einem Bein auf das andere, schlingt ihre Finger ganz fest um ihren Schlüsselbund, der an einer dieser langen Werbeschnüre hängt. Sie ist sehr füllig und ungeschminkt und trägt einen ausgewaschenen, grauen Strickpullover. Einige Minuten zuvor hatte sie den bewusstlosen Mann auf dem Gehweg entdeckt. Sie hatte sich erschrocken. Sie dachte: „Ist der tot?“ Dann holte sie ihr Handy aus der Hosentasche, rief den Notdienst, fühlte seinen Puls. „Bei 50 Menschen, die an ihm vorbei gelaufen sind, ohne ihn zu beachten, habe ich aufgehört zu zählen“, sagt sie, und: „Er ist doch auch ein Mensch.“ Dann endlich hört man Sirenen aus weiter Ferne, ein weiß-roter Krankenwagen braust heran. Fast schüchtern hebt die Frau am Bordstein ihren Arm und winkt ihnen zu.
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