Die Chance in der Krise – eine Tao-Meisterschülerin über den bewussten Start in den Tag

Aufstehen, arbeiten, funktionieren. Nicht jeder Mensch ist mit seinem Leben glücklich. Manchmal braucht es einen Wink des Schicksals, manchmal kann ein kleines Coronavirus einen großen Anstoß geben. Die Tao-Meisterschülerin Birgit Stoffregen aus Waren (Müritz) hat eine eigene Sichtweise auf ein bewusstes Leben.
Titelbild
Birgit Stoffregen.Foto: Epoch Times
Von 27. Juli 2021

Kräftige, reinigende Schauer mit Gewitter zogen am Vormittag über das idyllische Touristenstädtchen Waren an der Müritz hinweg. Schwüle hängt nach wie vor in der Luft. In der Ferne mahnen graue Wolken, dass es nicht lange trocken bleiben wird.

Auf der Treppe am Mühlenberg gegenüber der Freilichtbühne sitzt Birgit Stoffregen, von Beruf Unternehmerin, genauer gesagt: Lehrerin für Kampfkunst und Körperweisheiten. Auf den ersten Blick ist der Frau mit den langen grauen Haaren und einem verschmitzten Lächeln anzumerken, dass der Lockdown sie nicht aus der Fassung bringen konnte.

Begonnen hat ihr Berufsleben in der Forstwirtschaft, die so gar nichts mit dem zu tun hatte, wie sich Birgit ihre Arbeit vorstellte. Statt die Seele der Bäume zu ergründen, galt es, sich den betriebswirschaftlichen Aspekten zu widmen. Das war nicht das, was sich die heute 58-Jährige vorgestellt hatte. Die Liebe zur Natur hat sie sich trotzdem bewahrt. Im nahegelegenen Jugendwaldheim in Loppin hat sie zehn Jahre als Leiterin gearbeitet und war für Kinder und Jugendliche da. „Das hab ich sehr gerne gemacht“, sagt sie mit leuchtenden Augen. Nur die Bürokratie, die mit dem öffentlichen Dienst verbunden war, missbehagte ihr, sodass sie 2003 ihren Dienst quittierte. Birgit sprang ins kalte Wasser, widmete sich Kampfkunst und Heilgymnastik und gründete mit ihrem Meister zwei Jahre später die TAO-Schule in Waren (Müritz).

In den vergangenen Monaten war die gebürtige Mecklenburgerin für ihre großen und kleinen Tao-Schüler ein Fels in der Brandung. Als andere Freizeiteinrichtungen die Schotten dichtmachten, suchte sie nach Lösungen, um den Kindern weiterhin Weisheit und Bewegung zu vermitteln und mit verzweifelten Eltern in Kontakt zu bleiben. So unterrichtete sie fortlaufend Aikido, Qigong, Tai Chi Chuan, Kenjutsu und Akrobatik in viel kleineren Trainingsgruppen und gab Privattraining, was für die Trainerin zwar zeitaufwendiger war, dafür aber nicht mehr Geld in ihre Kassen spülte. Die Gebühren für bestehende Verträge liefen glücklicherweise weitestgehend weiter, sodass ihr Lebensunterhalt gesichert war.

Seit Mai 2021 zog es Birgit dann mit ihren Schülern raus an die frische Luft, hier auf den Mühlenberg. Dazu hatte nicht zuletzt der Vermieter ihrer Geschäftsräume beigetragen, indem er ihr das Mietverhältnis für das Dojo nach sieben Jahren mit einer dreimonatigen Frist zu Ende April kündigte – ohne jegliche Begründung.  Birgit nahm dies als Zeichen, dass es wieder einmal Zeit für einen Wandel war. Nicht zum ersten Mal hatte das Leben sie zum Umdenken inspiriert oder gezwungen. Natürlich hätte sie mit einem Rechtsanwalt gegen die Kündigung ankämpfen können, aber eine innere Stimme und das Urvertrauen sagten ihr, dass alles in Ordnung sei.

Das Problem ist, dass viele Menschen momentan voller Angst sind. Sie suchen nach einem Gefühl von Sicherheit im Außen. Unter größtem Druck, der von allen Seiten kommt, funktionieren sie und vergessen dabei, wer sie sind.“

Es ist nicht immer leicht, wenn einen das Leben so überrollt – aber ist das noch Leben? Was ist eigentlich Leben? Davon hat die Tao-Meisterschülerin ein ganz klares Verständnis.

Die eigene Mitte finden

In den vergangenen Jahren hat Birgit weit über ihre Grenzen hinaus gearbeitet, sodass sie jetzt einen Gang runterschaltet und auch mal ein paar Tage Urlaub nimmt. Der Weg in der Mitte zwischen den Extremen ist sehr schmal. Nur arbeiten oder nur ins Blaue hinein zu leben, ist auf Dauer keine Lösung. Die Kunst sei es, die Mitte zu finden, weder das eine noch das andere Extrem zu leben und auch nicht über dieses und jenes zu urteilen. In jeder Krise steckt eine Chance. „Aber wer die Extreme nicht gelebt hat, kann die Mitte schlecht finden“, erklärt Birgit.

Eine Tugend, die sie für sich erkannt hat, ist Demut. Früher verband sie den Begriff mit dem Gefühl, klein und nichtig zu sein. Birgit neigt ihren Kopf, hält inne und sagt: „Früher war ich immer stolz. Das Gedicht Prometheus von Goethe habe ich geliebt.“ Voller Inbrust fängt sie an zu rezitieren:

Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst,
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn;
Musst mir meine Erde
Doch lassen steh’n…

Dieses Rebellische hat ihr immer imponiert. Doch im Angesicht des Universums, des Lebens und der Zusammenhänge, die sie sich während ihres Erdendaseins erarbeitet hat, hat sich Birgit dann wie eine „kleine Ameise hier auf dieser Erde“ gefühlt. Das habe sie demütig werden lassen. Ihr ist bewusst, dass sie ihren Platz in dem ganzen Getümmel hat und Gutes bewirken kann. Das gilt auch bei Konflikten.

Wenn Probleme auftreten, dann schaut die Tao-Lehrerin, was das Gegenüber ihr spiegelt. „Es ist leichter, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Die eigenen Schattenseiten in den Handlungen anderer zu erkennen, ist dagegen alles andere als angenehm.“ In einer solchen Situation heißt es, über den eigenen Schatten springen, sich mit alten Mustern auseinandersetzen und sie durch neue Eigenschaften zu ersetzen.

Was bedeutet Leben?

„Wenn man über das Leben nachdenkt und hineinfühlt, wird einem klar, dass vieles, was man als wichtig erachtet, gar nicht von Bedeutung ist“, philosophiert die ehemalige Forstingenieurin, die in ihrem Wesen der alten Weisen aus vielen traditionellen Erzählungen gleicht. Zu den wirklich wichtigen Dingen zählt sie: ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Kleidung und vor allem Menschen, mit denen sie gut miteinander sein kann. „Alles andere ist Schnickschnack, der davon ablenkt, wer oder was man selbst ist“, bemerkt sie und macht eine Geste, als ob sie eine alte Last von sich schöbe.

Doch leider beschäftigen sich die Leute lieber mit den Dingen im Außen. Um klarzumachen, wovon Birgit überhaupt spricht, erzählt sie ein einschneidendes Erlebnis, das etwa sechs oder sieben Jahre zurückliegt. Damals war sie selbständig und hatte Spielraum in ihrem morgendlichen Ablauf. Üblicherweise stand sie gegen sieben Uhr auf. An jenem Tag konnte sie nicht aufstehen. „Das war kein körperliches Problem, sondern ein seelisches“, beschreibt sie. Ihre Gedanken kreisten um die Fragen: Warum soll ich aufstehen? Was bietet mir das Leben, dass es sich heute lohnt aufzustehen?

So blieb sie bis halb acht liegen, es wurde acht, neun und selbst um zehn kreisten die Gedanken noch immer um die Frage, warum sie aufstehen sollte. Um elf Uhr spürte sie dann einen Impuls und verließ das Bett. Welcher Impuls das genau war, daran kann sie sich heute nicht erinnern. Aber das Gefühl, wirklich innerlich zu betrachten, warum es sich lohnt aufzustehen, ist geblieben. Zur damaligen Zeit wurde Birgit klar, dass sie – zumindest teilweise – auch nur funktionierte. Das wollte sie doch nicht mehr. Sie wollte lebendig sein! Gedanklich hatte sie sich schon oft mit diesem Thema auseinandergesetzt, jetzt war diese Erkenntnis tiefer gerutscht und zu einem Gefühl geworden.

„An diesem Morgen bin ich bewusst aufgestanden, weil ich einen Impuls gespürt habe, der aus mir selbst kam – ohne Druck von Außen. Das war ein entscheidender Punkt für mich.“

Mit Weisheit leben

Seit über 20 Jahren ist sie nun schon Tao-Meisterschülerin bei ihrem Meister Ralf Hoffmann; 15 Jahre leitet sie ihre eigene Schule für Kampfkunst und Körperweisheit in Waren (Müritz).

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sie vieles gelernt, was sie heute an Kinder, Jugendliche und Erwachsene weitergibt, beispielsweise, dass man lernen muss, Dinge umzusetzen. „Es reicht nicht, wenn man weiß, was zu tun ist. Aber gerade in der heutigen Zeit braucht es viel Mut, anders zu denken, anders zu handeln und anders zu sein – Mut, zur eigenen Wahrheit zu stehen“, sagt Birgit.

Aber oft, erklärt die Unternehmerin weiter, ist das, was wir als eigene Wahrheit betrachten, eine Summe der Prägungen der Familie und der Gesellschaft. Einen wichtigen Aspekt nimmt der Glaube ein. Schon immer hat Birgit an eine göttliche Kraft geglaubt – „nicht an Gott, wie es in der Bibel steht, sondern eine Art höhere Macht“. Irgendwann erkannte sie, dass auch dieser Glaube nur eine Prägung ist. Wäre sie in einer anderen Kultur mit anderen Göttern aufgewachsen, hätte sie wohl an diese geglaubt. Glauben ist etwas, das im Inneren reift und Zeit braucht. Davon ist Birgit überzeugt.

„Unsere Weisheit ist die Summe unserer Erfahrung. Dazu gehören die Gespräche mit anderen Menschen, die Erlebnisse, Weisheiten aus Büchern verschiedener Kulturen, überwundene Ängste. All das sind Puzzleteile, die die eigene Lebensphilosophie bilden.“

Wie der Einfluss von Familie und Gesellschaft Menschen prägt, kann man gerade in der jetzigen Zeit gut beobachten. Selbst wenn es beispielsweise keine Maskenpflicht an bestimmten Orten gibt, ziehen die Mehrheit der Kinder und Erwachsenen trotzdem eine über. Wenn sie dann gefragt werden, warum sie eine Maske tragen, begründen sie das mit den Worten: Das macht man jetzt so, um die anderen zu schützen. Das könne man natürlich so sehen, aber man könne es auch hinterfragen.

Sein Ziel ins Auge fassen

Die 20 Jahre Kampfkunst bei ihrem Meister haben Birgit geprägt und zu einem ganz anderen Menschen gemacht. Aber schon immer ist die Kampfkunst-Lehrerin für das aufgestanden, was ihr wichtig war – nicht nur aus dem Bett, sondern auch im Leben, früher allerdings mehr aus Trotz und nur für sich allein.

Inzwischen betrachtet sie das Leben auf eine besondere Art. Denn bei Kampfkunst geht es nicht wie beim Kampfsport darum, jemanden zu besiegen. Es geht darum, sich selbst zu erkennen. Das ist ein weiter Weg.

Mein Meister sagt immer: Das einzige, was einen davon abhält, zum Ziel zu kommen, ist, vorher aufzugeben.“

Das ist ihre Motivation, früh aufzustehen und weiterzumachen. Auch die Worte von Johann Wolfgang von Goethe, „Aller Anfang ist leicht, und die letzten Stufen werden am schwersten und seltensten erstiegen“, motivieren die Trainerin. Damit besiegt sie ihren inneren Schweinehund, wenn sie mal keine Lust hat, zum Training zu fahren. Denn wer ein Ziel vor Augen hat, weiß, wofür er aufsteht.

Birgit hat ihr nächstes Ziel klar vor Augen. Ihr großer Traum ist es, ihre Prinzipien in einer eigenen Ganztagsschule umzusetzen, wo Kinder ihre Persönlichkeit entfalten, den Umgang mit ihrer Mitwelt und Werte lernen, die das Leben lebenswert machen. Seit Jahren sieht sie ihre Mission darin, Kinder und Jugendliche an die Natur heranzuführen und sie die Achtung vor dem Leben zu lehren. Sie nennt das auch „Mitwelt“ – schließlich sind die Menschen mittendrin in der Natur, ein Teil derer. Auch die Weisheit über das Gleichgewicht zwischen Körper, Seele und Geist weiterzugeben, liegt ihr am Herzen. Nur wenn alle Wesensbereiche gleichermaßen Beachtung finden und gefördert werden, kann der Mensch sich rundum wohlfühlen und zufrieden sein, erklärt die Leiterin der von ihr bislang als Freizeiteinrichtung betriebenen Tao-Schule.

Fehlen darf auch nicht ein soziales Miteinander, das auf Verständnis statt auf Konkurrenzdenken beruht. „Jeder hat Fähigkeiten und jeder ist wichtig.“ Einer kann gut zuhören, jemand ist ein guter Lehrer, eine andere eine gute Krankenschwester und so weiter – jeder trägt zu einem bunten Miteinander bei. Und selbst ein Obdachloser, der irgendwo in der Ecke sitzt und bettelt, gehört für Birgit in dieses System. Früher waren das für sie Asoziale, auf die sie herabschaute. „Jetzt sehe ich den Menschen, der dort sitzt. Ich habe nicht das Recht, ihn zu verachten oder geringzuschätzen. Ein Obdachloser hat wie jeder andere Mensch eine Geschichte, die ihn geprägt hat. Wer nicht in seinen Schuhen gegangen ist, weiß nicht, welches Leid dieser Mensch durchgemacht hat“, so Birgit.

Mit großer Anteilnahme sieht Birgit die wachsende Spannung in der Gesellschaft. Da Kinder nicht einschätzen können, was richtig und was falsch ist, orientieren sie sich an den Erwachsenen. Normalerweise sollten Erwachsene mit den Jahren eine Lebenserfahrung, günstigenfalls eine Lebensweisheit entwickelt haben, sagt Birgit. Doch wo gibt es heutzutage Erwachsene, die ihre eigene Überzeugung gebildet haben, der sie treu bleiben und Kindern Stärke und Mut weitergeben; erst Recht in Zeiten von Corona. Wer übernimmt die Veranwortung? Leider gebe es davon viel zu wenige, findet die Tao-Meisterschülerin.

Und was braucht es, damit die Menschen mehr Stärke und Mut entwickeln und Dinge wie ein Dach über dem Kopf, Nahrung und Kleidung wertschätzen können? Was braucht es, damit die Menschen wieder mehr Lebensfreude finden?

„Vielleicht braucht es noch ein bisschen mehr Corona“, philosophiert Birgit mit einem Augenzwinkern und zeigt sich überzeugt, dass schon viele Menschen gemerkt haben, was in ihrem Leben aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wer das erkannt hat, kann sein Leben in die gewünschte Richtung lenken. Denn alles Negative hat auch etwas Positives, im taoistischen Yin-Yang-Zeichen zeigt sich dies durch den weißen Punkt im Schwarzen und den schwarzen Punkt im Weißen. „Vielleicht sind wir jetzt an einem Punkt angelangt, wo tatsächlich das Schwarze in Richtung Licht kippt“, hofft Birgit. Jetzt ist die Zeit, aus dem Hamsterrad auszusteigen, denn schließlich steckt in jeder Krise eine Chance.



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