Bambi für Ruth Pfau – Lepra-Ärztin, Nonne, Powerfrau

Unser Autor Roland Ropers, der Ruth Pfau zweimal in Pakistan begegnete, hat ihren Lebensweg immer voller Hochachtung betrachtet und lässt sie hier mehrfach zu Worte kommen.
Titelbild
Dr. Ruth Pfau wird der Bambi 2012 von Johannes B. Kerner in der Stadthalle Düsseldorf überreicht.Foto: Andreas Rentz/Getty Images
Von 24. November 2012

Durch die Bambi-Verleihung am 22. November ist eine Frau buchstäblich ins Bild gekommen und hat via Fernsehen zu vielen Menschen sprechen können, die ihr Leben den Leprakranken in Pakistan gewidmet hat.

„Sie wissen sicher, dass Ihre Welt nicht meine Welt ist“, sagte sie vor den prominenten Gästen im Saal. Mit ihr seien gleichzeitig die Menschen in Pakistan eingeladen worden, „die heute Abend hungrig zu Bett gehen.“ Unser Autor Roland Ropers, der Ruth Pfau zweimal in Pakistan begegnete, hat ihren Lebensweg immer voller Hochachtung betrachtet und lässt sie hier mehrfach zu Worte kommen:

„Wenn ich aus dem Flugzeug steige und mich das feuchtheiße Tropenklima von Karachi überfällt und benommen macht, 40° C und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, das unbeschreibliche Durcheinander auf dem Flughafen, dieser Kirmesbetrieb – die Lautstärke, in der sich die Unterhaltung abspielt – die Aufdringlichkeit der kleinen Gepäckträger und der Taxifahrer, die sich an einen hängen und etwas verdienen wollen – wenn ich wieder eintauche in dieses lärmende, quirlende Leben, dann weiß ich, ich bin dort, wo ich sein möchte.

Aber da fängt es auch schon an: das Leben des ständigen ohnmächtigen Mit-Leidens, des ewig schlechten Gewissens. Wenn ich nicht im Triumph von meiner Gruppe abgeholt würde – ein Minibus voll Panjabi-Mädchen, die sich ums Gepäcktragen reißen – dann könnte der Bub, der als Lastenträger eine Verdienstmöglichkeit zu erhaschen versucht, dann könnte der heute Abend stolz seine 10 verdienten Rupien vorzeigen – dann hätte der Taxifahrer wenigstens seine Unkosten verdient – dann – dann – dann. Das pulsierende, bunte Leben – flimmernde Sonne, Hitze und Staub – das pausenlose Gehupe im chaotischen Straßenverkehr, flitzende Rikschas und bedächtige Kamele vor hochbeladenen Lastkarren, buntbemalte Busse, vollgepackt bis zum Dach, auf jedem Trittbrett Menschentrauben…“

Die deutsche Nonne Ruth Pfau mit dem Bambi.Die deutsche Nonne Ruth Pfau mit dem Bambi. Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Ruth Katherina Martha Pfau wurde am 9. September 1929 in Leipzig geboren. „Es war kurz nach dem Krieg, ich muss etwa 17 gewesen sein. Mein kleiner Bruder war schwer krank. Wir hatten kaum etwas zu essen und es gab keinen Arzt. Draußen hatten die Russen eine Ausgangssperre verhängt. Bis mein Vater mit den Medikamenten zurückkam, war mein Bruder gestorben. Damals bin ich die Kellertreppe hoch und habe mir gesagt: So etwas darf nicht passieren. Jetzt Medizin, tot oder lebendig.“

1948 folgte sie ihrem Vater in die Bundesrepublik und begann in Mainz mit dem Medizinstudium. Beeinflusst durch einen Freund ließ sie sich 1951 taufen und wurde zunächst Mitglied der evangelischen Kirche, konvertierte dann 1953 im Alter von 24 Jahren zur römisch-katholischen Kirche. Nach Abschluss ihres Studiums mit internistischer, gynäkologischer und geburtshilflicher Weiterbildung in Köln und Bonn trat sie 1957 in die Kongregation der Gesellschaft der Töchter vom Herzen Mariä ein. 1960 wurde sie von ihrem Orden nach Indien geschickt, wo sie als Frauenärztin arbeiten sollte.

Aufgrund von Visaschwierigkeiten war ein Zwischenaufenthalt in Karachi/ Pakistan erforderlich. In einem Elendsviertel begegneten ihr leprakranke Menschen. Die Lepra-Hilfe und das Land Pakistan prägen seit über 50 Jahren das Leben der ungewöhnlichen Frau, die sich in den Dienst der ärmsten Menschen gestellt hat.

„In welchem Anflug geistiger Umnachtung hatte ich mich freiwillig in die verlassene Einöde gemeldet. Es war der Monat März 1960. In Karachi war es sehr heiß, als ich im Wintermantel aus dem Flugzeug ausstieg. Ich war ziemlich flugkrank und hatte, bis die heilige Messe in unserer Kommunität um 6 Uhr war, seit 24 Stunden nichts mehr im Magen. Nicht einmal einen Tee erhielt ich. Man durfte damals ja nichts essen, wenn man zur Kommunion ging. Das Zimmer, das mir zugewiesen wurde, besaß nur eine halbe Wand. Auf der anderen Seite wohnten die Mädchen. Das Radio dröhnte in einer solchen Lautstärke, dass ich mit meinem Koffer auszog. Sicher war ich nicht nur total übermüdet, ich hatte bestimmt auch niedrigen Blutzucker. Ich dachte: So sollte man einen jungen Menschen in einem fremden Land nicht empfangen. Und: Hier bleibe ich nicht!“

Es gibt keinen Ort der Welt, wo das Elend so zusammengeballt ist wie in einem Lepra-Viertel. Ruth Pfau beschloss, ein Krankenhaus zur Lepra-Bekämpfung zu errichten. Das Marie Adelaide Leprosy Centre (MALC) wurde zu einer in ganz Pakistan anerkannten Institution – ich bin selbst zweimal dort gewesen.

Das Wort Pakistan ist sehr bedeutungsvoll und nur Wenigen bewusst – „stan“ steht für Land, die Buchstaben P,A,K,I für Punjab, Afghanistan, Kaschmir, Indus. Das Arbeitspensum der heute 83-jährigen Lepra-Ärztin ist ohne Beispiel. Seit 1988 ist sie Ehrenbürgerin von Pakistan, wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland wie auch mit dem asiatischen Friedensnobelpreis „Ramon Magsaysay Award“ (2002) und der Goldmedaille des Albert-Schweitzer-Preises (2004) ausgezeichnet.

Ihre Bücher sind in hohen Auflagen erschienen: „Verrückter kann man gar nicht leben“, „Liebe und tu, was du willst. Wege meines Lebens“, „Das letzte Wort wird Liebe sein. Ein Leben gegen die Gleichgültigkeit“, „Und hätte die Liebe nicht. 50 Jahre in Pakistan“ (herausgegeben von Michael Albus).

Als Ruth Pfau in Karachi im Alter von 30 Jahren ihre Arbeit begann im Bretterverschlag auf der McLeod Road, wo täglich zahllose kranke, „aussätzige“ Menschen Hilfe suchten, war ihre Verzweiflung zunächst sehr groß.

Ruth Pfau besuchte 2010 das von der Flut zerstörte Dorf Begna in Pakistan.Ruth Pfau besuchte 2010 das von der Flut zerstörte Dorf Begna in Pakistan. Foto: Asif Hassan/AFP/Getty Images

„Der Behandlungsraum war aus alten Holzkisten zusammengenagelt, ohne Elektrizität und Wasser. Nur zwei winzige Fenster. Die unerträgliche Hitze, Gestank, Lärm. Asien ist ja ein ohrenbetäubend lauter Kontinent. Und Fliegen, überall Fliegen.

Was mich damals noch mehr erschüttert hat, das war dieser eine Patient. Nicht älter als ich, noch keine 30: Mohammed Hassan. Er kam aus dem Norden Pakistans, aus den Bergen. Und er kroch, auf Händen und Füßen, in den Bretterverschlag. Auf allen Vieren, wie ein Hund. Seine Mitpatienten traten gleichmütig zur Seite, keiner regte sich auf. So, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Etwas, wogegen sich aufzulehnen keinen Sinn hat: dass ein Mensch so auf Händen und Füßen durch Staub und Schmutz kriechen müsse.

In Mohammed Hassans Stimme lag nur dumpfe Resignation. So als könnte es gar nicht anders sein. Er hatte auch nur ein, ein einziges Leben zu leben! Ein Leben so wie ich! Wir haben heute etwa 600 Mitarbeiter. Zehn davon sind Ärzte. Das heißt, im Krankenhaus muss sich ein Arzt manchmal 400 Patienten am Tag anschauen. Darunter leidet natürlich oft die Versorgung.

Ich habe mal einen befreundeten Neurologen gefragt, wie er überhaupt noch mit dem Wissen schlafen könne, dass er 80 Prozent seiner Patienten nicht einmal richtig angucken kann. Seine Antwort: Er habe sich irgendwann entschlossen, zumindest die ersten zwanzig gründlich anzusehen und eine richtige Diagnose zu erheben. Zu den anderen sei er nur noch nett, drücke ihnen eine Aspirin- oder Vitamintablette in die Hand und rate ihnen, Allah für ihre Gesundheit zu danken.“

Wer Ruth Pfau jemals persönlich begegnet durfte, wurde beschenkt von der Kraft und Liebe einer urchristlich verankerten Frau, die sich nicht mit dogmatischen Spitzfindigkeiten von intellektuellen Theologen beschäftigt. Ihr Lepra- und Tuberkulose-Kontrollprogramm ist einzigartig. Allein auf riskanten Himalaya-Pfaden hat sie illegal im afghanischen Untergrund einen Gesundheitsdienst aufgebaut. Ihr Lebensabenteuer heißt Freiheit.

„Die Menschen sollten nicht alles ungefragt glauben, was die Medien berichten. Wer weiß zum Beispiel schon, dass 69 Prozent der Massenvernichtungswaffen im Besitz der Amerikaner sind? Ich habe in einem Flüchtlingslager in Pakistan den Abschiedsbrief eines afghanischen Vaters gelesen, nachdem er sich und seine Familie vergiftet hat. Er könne es nicht mehr ertragen – schrieb er –, dass ihn seine Kinder um trockenes Brot anbetteln. Unter ähnlichen Lebensumständen leben 500.000 Flüchtlinge. Auch das sind Folgen dieser Politik.“



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