Was ist Ritterlichkeit und ist sie bereits tot?

Der Begriff „Ritterlichkeit“ bezog sich ursprünglich auf weit mehr als auf das Verhalten zwischen Männern und Frauen.
Titelbild
„God Speed“ („Viel Glück“), 1900, von Edmund Leighton. Öl auf Leinwand. Private SammlungFoto: Gemeingut
Von 2. Dezember 2023

In einem Artikel auf der Webseite „The Conversation“ aus dem Jahr 2018 heißt es, dass selbst überzeugte Feministinnen Studien zufolge ritterliche Männer attraktiv finden. Der gegenwärtig akzeptierte psychologische Ausdruck für Ritterlichkeit ist „wohlwollender Sexismus“. Aber ich bevorzuge den traditionellen Begriff.

Moderne Psychologen fassen sich an den Kopf, wenn sie versuchen, das Phänomen zu erklären, dass Frauen ritterliche Männer attraktiv finden.

Die Erfinder des Begriffs „wohlwollender Sexismus“ waren der Meinung, dass solch ritterliches Verhalten „die Gleichstellung der Geschlechter auf subtile Weise untergräbt“. Denn die Überzeugung, dass Frauen geschätzt und beschützt werden sollten – und Handlungen, die dieser Überzeugung entsprächen – stelle Frauen als inkompetent und hilfsbedürftig dar.

Ein Glaubenssystem

„Porträt eines Ritters“, 1510, von Vittore Carpaccio. Öl auf Leinwand. Thyssen-Bornemisza-Museum, Madrid Foto: Gemeingut

Natürlich ging es bei dem Begriff „Ritterlichkeit“ ursprünglich um weit mehr als nur um das Verhalten von Männern gegenüber Frauen. Es handelte sich um ein komplexes Geflecht an Erwartungen bezüglich des Verhaltens berittener Krieger. Dies bezog auch die Etikette im Kampf mit ein.

Der Begriff der Ritterlichkeit leitet sich vom lateinischen „caballarius“ ab, was „Reiter“ bedeutet, und geht auf das altfranzösische „chevalier“ zurück. Insgesamt war es ein Versuch, christliche Ideale auf den Beruf des Kriegers anzuwenden und Männer zu zivilisieren, die sich ohne solche hohen Ideale aufgrund ihres Interesses an Krieg und Plünderung ansonsten brutal verhalten würden.

Die mittelalterliche Ernennungszeremonie war fast schon eine liturgische Feier, zu der auch die berühmte nächtliche Gebetswache des Ritters in der Kirche gehörte. Dieses Ritual sollte ihn auf seine neue Berufung vorbereiten.

Eine Illustration von betenden Rittern vor dem Kampf der Dreißig (einem legendären Ritterduell im Jahr 1351), von John Everett Millais aus dem Buch „Ballads and Songs of Brittany“ von Tom Taylor, 1862 Foto: Gemeingut

Ein Ritter sollte tugendhaft und höflich sein. Er sollte seinem Lehnsherrn große Loyalität entgegenbringen, denn das Rittertum stand auch in Wechselwirkung mit der feudalen Sozialstruktur und verstärkte diese.

Wie es im Rolandslied „Chanson de geste“ („Heldengedicht“) aus dem 11. Jahrhundert heißt: „Für seinen Herrn muss man große Entbehrungen auf sich nehmen und Kälte und Hitze ertragen können, ja, man muss bereit sein, sein Blut und sein Fleisch zu verlieren“. Die Beziehung zwischen Herr und Vasall wurde als eine Art Spiegelbild der Beziehung zwischen Gott und seinen Dienern angesehen.

Eine der Erwartungen an einen Ritter war, dass er Frauen ehren, respektieren und beschützen sollte. Und genau dieser Aspekt dominiert im modernen Verständnis des Begriffs „Ritterlichkeit“. Es ist jedoch wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Ehrung von Frauen Teil einer größeren Vision war, die letztlich im Glauben und in der Loyalität zu Gott wurzelt.

Ad absurdum

Der Begriff „Rittertum“ in seiner modernen Form ist auch mit der höfischen Liebe verwechselt worden, einem Konzept, das im späteren Mittelalter von den Troubadouren entwickelt und ausgearbeitet wurde.

In ihren Liedern und Gedichten schlugen die Barden vor, dass die Ritter eine besondere, hochgeborene Dame auswählen sollten, die sie lieben und ehren und für die sie mit äußerster Hingabe große Taten vollbringen sollten, auch wenn sie diese Frau niemals heiraten würden.

In seinen exzessivsten Formen führte dies zu einer völligen Vergötterung einer Frau, die als ein höheres Wesen, eine Göttin, angesehen wurde. Es konnte auch in Ehebruch ausarten, wenn die ausgewählte hohe und edle Dame bereits verheiratet war, wie in den Geschichten über Lancelot und Guinevere.

Der berühmte mittelalterliche Dichter Geoffrey Chaucer dramatisiert diese Perversion des Rittertums in „The Knight’s Tale“ („Ein Rittermärchen“). Darin verdeutlicht er den Schaden und die Absurdität, die aus einer übertriebenen Form der höfischen Liebe resultieren können. Nämlich wenn zwei junge Männer sich darauf vorbereiten, bis zum Tod um eine Frau zu kämpfen, mit der keiner von ihnen je gesprochen hat.

Nach der ursprünglichen Vorstellung des Ritterkodex sollte der Mann die Frau nicht deshalb ehren, weil sie ein höheres Wesen ist. Er sollte sie ehren, weil sie tugendhaft, keusch, bescheiden, von Natur aus schön und körperlich schwächer als der Mann ist. Und weil Gott beschlossen hatte, durch eine Frau in die Welt zu kommen. Sie galt als Bewahrerin und Erzeugerin des Lebens und der Kultur, als Seele des Hauses und damit als Seele der Zivilisation.

In ihrer besten Ausprägung spornte die höfische Liebe die Männer aufgrund der hohen Erwartungen, die ihre Geliebte in sie setzte, zu großen Taten an. So ermutigten sich Männer und Frauen gegenseitig im Streben nach Tugend und letztlich im Streben nach Gott.

„Ritterlichkeit“, 1885, von Frank Bernard Dicksee. Öl auf Leinwand. Private Sammlung Foto: Gemeingut

Die Balance halten

Tennyson legte König Artus in den „Idyllen des Königs“ folgende Worte in den Mund, die meiner Meinung nach hervorragend den Geist dieses Aspekts der Ritterlichkeit ausdrücken:

Ich kannte
Keinerlei subtileren Meister unter dem Himmel
Als die jungfräuliche Leidenschaft für eine Jungfrau,
Nicht nur das Niedrige im Menschen zu zügeln,
sondern hohe Gedanken und treffliche Worte zu lehren

Und Höflichkeit, und das Verlangen nach Ruhm,
Und Wahrheitsliebe, und alles, was den Menschen ausmacht.

Jeder Mann, der eine wirklich gute und edle Frau geliebt hat, kennt die Wahrheit in diesen Worten. Das mittelalterliche Gedicht „Sir Gawain and the Green Knight“ („Sir Gawain und der grüne Ritter“) kann unser Verständnis von Ritterlichkeit und ihrer untrennbaren Verbindung zur Tugend vertiefen.

In dieser Erzählung eines anonymen Dichters aus dem 14. Jahrhundert verbringt Sir Gawain einen Teil seiner Ritterreise auf der Burg von Lord Bertilak und dessen Frau, Lady Bertilak. In dieser Episode stellt der Dichter zwei zentrale Grundsätze des ritterlichen Kodex gegenüber: Höflichkeit gegenüber Damen einerseits und Reinheit andererseits.

Sir Gawain wird auf eine harte Probe gestellt, als Lady Bertilak ihm Avancen macht. Darauf einzugehen, würde seine Reinheit und Keuschheit sowie seine Freundschaft mit dem Lord infrage stellen. Gleichzeitig würde er seine Pflichten der Höflichkeit und die Normen der höfischen Liebe verletzen, wenn er ihr eine klare Abfuhr erteilen würde.

„La Belle Dame sans Merci“ („Die schöne Dame ohne Gnade“), 1893, von John William Waterhouse. Öl auf Leinwand. Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Deutschland Foto: Gemeingut

Um zu erfahren, wie Sir Gawain mit diesem kniffligen Dilemma umgeht, müssen Sie das Gedicht selbst lesen. Aber der Punkt ist, dass Sir Gawain, der uns als das Ideal des edlen Ritters gezeigt wird, glaubt, dass seine Ritterlichkeit in erster Linie von einem empfindlichen Gleichgewicht an Tugenden wie Selbstbeherrschung, Freundlichkeit und Wohltätigkeit abhängt.

Es geht also um weit mehr als nur darum, Frauen die Tür aufzuhalten. (Obwohl ein wahrer Ritter auch eine so einfache, aber wichtige Handlung niemals übersehen würde).

Ein vom Baum abgeschnittener Zweig

Oft wird die Frage gestellt: Ist das Rittertum tot? Ist es in der modernen Welt noch relevant? Die Anzahl der unterschiedlichen Sichtweisen auf diese Frage, die mir untergekommen sind, ist schwindelerregend. Ich denke, dass wir die Frage letztlich nur dann wirklich beantworten können, wenn wir die Ritterlichkeit in den richtigen Kontext stellen.

Sie kann als ein vollständiger Verhaltenskodex begriffen werden, der weit über die Beziehung zwischen Mann und Frau hinausgeht. Diese ist lediglich ein Teil innerhalb einer größeren Struktur – wie ein Stück Mauer in einer Burg, wenn man so will. Sie ist ein Ausschnitt einer größeren Weltsicht.

Wir müssen auch verstehen, dass der ritterliche Geist – auch wenn er vor allem in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Kultur zum Ausdruck kam – universelle Wurzeln hat, die heute genauso gelten wie damals; auch wenn sie in der Praxis heute anders aussehen mögen.

Warum finden Feministinnen ritterliche Männer attraktiv? Ich würde sagen, dass Männer und Frauen auf diese Weise fest verbunden sind, mit einem grundlegenden Verständnis für die sich ergänzenden, aber dennoch unterschiedlichen Rollen der Geschlechter in der Gesellschaft. Frauen wissen, dass Männer beschützen sollten, und Männer wissen das auch. Das liegt in unserer Natur.

Um diese natürliche Neigung jedoch vollständig zu verstehen und zu entwickeln, ist eine größere, zusammenhängende Weltanschauung erforderlich. Abgeschnitten vom gesamten Baum der traditionell-westlichen und christlichen Vision der Gesellschaft sowie der menschlichen Wesensart, sind isolierte ritterliche Handlungen verdorrende Äste. Und sie verschwinden zusehends aus unserer Kultur.

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: What Is Chivalry and Is It Dead? (deutsche Bearbeitung nh)

 

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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