Keine Gewalt in Fußballstadien
Gibt es in unseren Fußballstadien einen Rückfall in Zeiten der unkontrollierten Gewalt? Medienberichte in jüngster Zeit vermitteln diesen Eindruck. Trotz der anhaltenden Fußballeuphorie im ganzen Land und trotz des steigenden Zuschauerzuspruchs – auch aufgrund der WM – und trotz schärferer Gesetze und härterem Durchgreifen der Polizei berichtete der „Stern“ am 8. November 2006 über eine angebliche „… Gewaltwelle in den Fußballstadien …“ und darüber, dass diese „…viele Fans von einem Besuch der Arenen abhalten …“ würde.
Die Neue Epoche sprach zum Thema Fangewalt in unseren Stadien mit dem Fanbeauftragten des FC St. Pauli, Heiko Schlesselmann; mit dem Projektleiter des HSV-Fanprojektes, Joachim Ranau, und dem Fanbeauftragten von Borussia Mönchengladbach, Thomas Weinmann.
DNE: Es scheint in letzter Zeit laut einigen Medienberichten eine Zunahme der Gewalt in den Stadien zu geben – ist das auch Ihre Wahrnehmung; ist es bei Ihrem Verein auch so?
Heiko Schlesselmann (FC St. Pauli): Nein, die gibt es nicht. Beim FC St. Pauli im Stadion gab es Anfang der 90er ab und zu Gewalt – aber im Stadion passiert jetzt überhaupt nichts mehr in dieser Hinsicht. Wenn überhaupt, dann vor dem Stadion. Es gibt schon Spiele, die als problematisch zu bezeichnen sind, und es könnte in diesem Zusammenhang außerhalb des Stadions zu Auseinandersetzungen kommen. Aber das ist mit Sicherheit bei uns nicht mehr geworden.
Joachim Ranau (Projektleiter des HSV-Fanprojektes): Nein, es gibt keinerlei Zunahme der Gewalt, es wirkt nur spektakulärer. Die Gewalt in den Stadien der ersten und zweiten Liga ist in den letzten Jahren um ein Vielfaches zurückgegangen; wenn vor vielen Jahren der Gewalttäterszene beim HSV zum Beispiel 350 Leute zugerechnet werden konnten, so sind es heute höchstens noch 10 Prozent davon – das kann man durchaus auch für die größeren Vereine der ersten Liga so sagen. Wir weisen schon seit Jahren darauf hin, dass sich die Gewalttäter auf die unteren Ligen konzentrieren, um sich dort zu schlagen. Trotzdem würde ich überhaupt nicht von einer Zunahme der Gewalt insgesamt sprechen.
Thomas Weinmann (Fanbeauftragter Borussia MG): Das ist meines Wissens nirgendwo so. Es ist eine typische Übertreibung gewisser Medien – es kommt einem durch diese Art von Berichterstattung so vor, als ob es in den Stadien Gewalt gäbe – aber es gibt sie faktisch nicht. Nehmen wir zum Beispiel das Spiel, als Borussia vor kurzem bei einem unterklassigen Verein im Pokal ausgeschieden ist: natürlich waren die vielen mitgereisten Borussenfans sauer und haben ihrer Enttäuschung ziemlich laut Luft gemacht. Es sah dann im Fernsehen martialisch aus, als eine Hundertschaft Polizisten, die auch noch voll „behelmt“ war, vor dem Mannschaftsbus von Borussia stand. Im Fernsehen entstand dann der Eindruck, als müssten sie die Spieler vor den eigenen Fans schützen. In Wahrheit war es aber so, dass die Spieler an den Polizisten vorbei gegangen sind, um sich im Gespräch den enttäuschten Fans zu stellen. Gewalt gab es definitiv nicht! Im Osten Deutschlands scheint es da in einer Stadt so zu sein, als ob sich dort die Verantwortlichen gegenseitig selber blockieren – da kam es in letzter Zeit vor, dass Probleme mit Fans auftraten. Aber auch im Osten gibt es jetzt mittlerweile Fanprojekte, die sehr gut funktionieren. Beim FC Carl Zeiss Jena zum Beispiel wird schon lange sehr erfolgreich in dieser Hinsicht gearbeitet, weil derjenige, der dort arbeitet, auch in der Fanszene eine hohe Akzeptanz hat.
DNE: Wie ist die Entwicklung in Sachen Gewalt in den letzten zehn Jahren bei Ihrem Verein verlaufen?
Heiko Schlesselmann (FC St. Pauli): Es ist nicht weniger und auch nicht mehr geworden. Das einzige was mehr geworden ist, ist die Beobachtung der Fans durch die Polizei. So sieht es so aus, als wenn es mehr Probleme gäbe, weil eben viel mehr Polizei präsent ist. Aber es gibt nicht mehr Vorfälle als vor zehn Jahren.
Joachim Ranau (Projektleiter des HSV-Fanprojektes): „Ich würde den Zeitraum gerne auf 15 Jahre ausdehnen. Anfang der Neunziger Jahre gab es beim HSV eine relativ große Gruppe von etwa 350 Leuten, die sich unter dem Begriff Hooligans eingeordnet haben. Heute haben wir im Stadion keine konkret wahrnehmbare Härteszene mehr. Als Gruppe treten sie – wenn überhaupt – nur noch außerhalb des Stadions oder in anderen Bereichen und Feldern auf. Die aktuellen Beispiele aus den unteren Ligen zeigen dieses Phänomen im Moment ganz deutlich. Allerdings muss man konstatieren: die Gesamtheit der ergriffenen Maßnahmen, um der Gewalt wirksam zu begegnen, hat in den letzten Jahren offensichtlich Erfolg gehabt. Die Probleme in der ersten und zweiten Liga sind geringer geworden, auch beim HSV herrschen in dieser Frage momentan eher angenehme Zustände.
Thomas Weinmann (Fanbeauftragter Borussia MG): Wenn ich an die früheren Zeiten auf dem Bökelberg denke, als 10.000 Zuschauer kamen und darunter waren dann 500 bis 600, die darauf aus waren Stress zu machen, und mit der heutigen Situation vergleiche, wo vielleicht 50 vereinzelte (wenn überhaupt) im Gegensatz zu 53.000 Zuschauern stehen, sieht man doch ganz deutlich, in welchem Verhältnis die Entwicklung tatsächlich steht. Was mich in letzter Zeit sogar ein wenig stört, ist dieser Sicherheitswahn. Wenn Gladbach heutzutage gegen Schalke spielt, ist es hier immer noch so, als herrsche hier wie früher Kriegszustand: dann werden die Zäune erhöht, es gibt mehr Kontrollen, überall stehen Polizeiautos – das steht mittlerweile in keinem Verhältnis mehr zur Realität – die Realität ist, dass Fußballfans mittlerweile einigermaßen miteinander klar kommen. Ein gutes Beispiel ist das Spiel der Borussia in Hamburg vorige Woche, als der Oberrang im Gästeblock völlig durchmischt mit Gladbachfans und HSV-Fans war; es gab keine Trennung, alle saßen friedlich nebeneinander. Selbst wenn einer Stress gemacht hätte: wären sofort die Ordner und die Polizei gekommen und die Videokameras hätten alles aufgenommen. Mittlerweile haben die Fans doch alle dazugelernt. Außerdem kommen jetzt auch Besucher, die früher gar nicht gekommen wären. Seit wir im neuen Stadion spielen, haben wir pro Spiel 20.000 Zuschauer mehr; darunter auch viele Frauen und Kinder.
DNE: Was gab und gibt es für Maßnahmen in den letzten Jahren, um in den Stadien eurer Vereine Gewalt zu verhindern?
Heiko Schlesselmann (FC St. Pauli): Wie in allen Fanprojekten arbeiten wir das ganze Jahr gegen Gewalt und Extremismus an. Wir veranstalten Jugendaustausch mit anderen Ländern; wir versuchen Feindbilder abzubauen; wenn wir Leute sehen, die auffällig werden, kümmern wir uns um sie und reden mit ihnen; wir bieten Extrafahrten für Jugendliche an, damit sie eben nicht gleich auf der Fahrt schon mit Alkohol in Kontrakt kommen, und wir organisieren Fußballturniere mit anderen Fangruppen vor den Spielen, um dadurch gezielt das Feindbild abzubauen.
Joachim Ranau (Projektleiter des HSV-Fanprojektes): Im Grunde gab und gibt es zwei sich zum Teil sogar widersprechende Strategien im Umgang mit Gewalt bzw. gewalttätigen Fans. Zum einen wurden von Seiten der Polizei und der Ordnungskräfte sowie der dafür zuständigen Organe in den letzten Jahren viele Maßnahmen entwickelt, die ausschließlich repressiven
Charakter haben: massive Polizeipräsenz und Polizeieinsätze, Videoüberwachung, Einsatz so genannter szenekundiger Beamter in Zivil, Meldeauflagen, sogenannte „Gefährderansprachen“, bundesweite Stadionverbote, Änderungen in den jeweiligen Ländergesetzen zur Sicherheit und Ordnung, Ingewahrsamnehmen, Platzverbote, Ausreiseverbote bis hin zu DNA-Proben zur Identifizierung von Fußballfans. Zum anderen wurde von Seiten der Verantwortlichen auch auf präventive, pädagogische und die Fans beteiligende Konzepte und Ideen gesetzt. So wurden Fanprojekte – wie eben das
HSV-Fanprojekt – gegründet und hauptamtliche Pädagogen und Sozialarbeiter für die Arbeit mit Fußballfans eingestellt. Die Vereine stellten ihrerseits Fanbeauftragte für Fanbetreuung und Fanservice ein, und es wurden gewaltpräventive – also vorbeugende – Konzepte und Angebote entwickelt. Alle diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass in den oberen Ligen das Phänomen Gewalt in den Stadien kaum noch existiert. In diesem Zusammenhang gibt es auch bei den Verantwortlichen ein Umdenken: Während früher in den Stadien auf Separierung und „Käfighaltung“ der Fans gesetzt wurde, ist es zum Beispiel heute beim HSV so, dass jeder Fan innerhalb des Stadions auch ungehindert in einen anderen Bereich gelangen kann und Zäune rückgebaut werden. Das wird von den Fans sehr geschätzt und wir glauben, dass diese Offenheit dazu beigetragen hat, Auseinandersetzungen zu vermeiden. Jetzt muss sich „Fan“ sehr wohl überlegen, ob er andere bepöbelt. Es gibt keinen trennenden und schützenden Zaun mehr, man ist mittlerweile wieder mehr gemeinsam im Stadion und trägt mehr Mitverantwortung. Unterm Strich kann man sagen, dass die Gesamtheit all dieser Maßnahmen zu einem Rückgang der Gewalt im Stadion in den letzten Jahren beigetragen hat.
Thomas Weinmann (Fanbeauftragter Borussia MG): Das Wichtigste in Gladbach ist, dass wir den Fans die Möglichkeit geben, sich selbst zu regulieren. Als es früher Gewalt in unserem alten Stadion gab, hat der Geschäftsführer von Borussia, Helmut Grashoff, gesagt: „Organisiert euch, denn durch eine große Organisationsstruktur in der Fanszene lernen sich viele kennen und akzeptieren und respektieren sich dann auch besser.“ Seitdem wird in Gladbach die Fanarbeit von Fans für Fans geleistet. Bei den anderen größeren Vereinen wurde schon Ende der 80er Jahre damit begonnen Fanarbeit zu leisten, es wurden Fanprojekte ins Leben gerufen und Fanbeauftragte installiert.
Natürlich gibt es immer noch ein paar gewaltbereite Fußballfans. Die werden von uns aber in die Fanszene und in die Fanarbeit integriert und nicht ausgegrenzt. Die sogenannten Hooligans sind ja auch Borussiafans und wollen Borussia spielen sehen – es ist eben nicht so, dass sie durchs Stadion ziehen und jedem eins auf die Mappe hauen, nur weil ihnen gerade danach ist, denn dann bekämen sie Stadionverbot und könnten ihren Verein eben nicht mehr sehen. Dieses Risiko geht selbst ein gewaltbereiter Fußballfan nicht mehr ein. Außerdem schadet er ja damit auch seinem Verein – da können die noch so blöd oder intelligent sein, das wissen die mittlerweile auch.
Für mich persönlich ist es auch eine Art „Naturgesetz“, dass man kein Rassist ist, das ist für mich keine politische Einstellung, sondern eine grundsätzliche menschliche Sache. Nach meinen Beobachtungen ist dieses Bewusstsein in Deutschland auch bei den meisten Fußballfans gegeben – vielleicht gibt es ja noch welche, die so bescheuert sind. Aber die treten bei uns nicht in Erscheinung – die müsste man schon unter unseren 53.000 Zuschauern gezielt suchen, aber da könnte man auch eine Stecknadel im Heuhaufen suchen.
Die Gespräche führte Steffen Andritzke
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