Die Stadt

Eine kleine Hommage
Von 11. Februar 2005

Es ist kalt. Es ist windig. Der Winter ist wieder in der Stadt.

Schleicht durch die Straßen wie ein hungriges Tier. Überrascht die Menschen wie jedes Jahr, mit Schnee, Gestöber und anderen stürmischen Überfällen. Der Winter, so lasse ich mir sagen, liebt diese Stadt schon immer. Kein Geld für Streusalz, kein Geld für Straßenarbeiten. Die Stadt ist pleite, doch beliebt, wie so viele Metropolen dieser Welt. Und auch in diesem Jahr dürfte es leicht sein für ihn, genügend Opfer zu finden. Unter Fahrradfahrern und Automenschen, die alle oft so ungeduldig erscheinen in dieser Stadt.

Vielleicht liegt es an der Luft, die fast nie still, immer in Bewegung ist. Vielleicht liegt es an der Größe der Stadt, die immer Tempo verlangt und nie zur Ruhe kommt. Nur nichts verpassen, alles mitnehmen. Mit den Augen, mit der Nase, mit dem Mund. Die Radfahrer rasen unter dem Wind hindurch, vorbei an roten Ampeln, erschrockenen Fußgängern und hupenden Bussen, gerade so, als ob ein unsichtbarer Mörder sie verfolge, sie hetzen würde durch die Stadt, auf ihrer Suche nach schützender Arbeit, besseren Wohnungen und beruhigenden Therapeuten.

Ich verstehe sie besser, die Gehetzten, seit ich selber diese Stadt mit meinem Rad durchquere. Ämter, Jobs und andere Probleme kümmern

sich hier nicht um Entfernungen. Sie sind da und man ist leider dort.

Dort ist übrigens da, wo Menschen dieser Stadt wohnen und Freunde haben. In ihren Vierteln, die sie lieben wie Dorfbewohner ihre Dörfer. Die sie nur am Abend verlassen, wenn das Wetter gut ist und das Nachbardorf mit Neuem lockt. Im Sommer finden Ausflüge häufiger statt. Im Winter wird abgewogen zwischen Minusgraden und Muss-hin. Je tiefer die Temperaturen, desto höher die Anforderungen an Parties, Künstler und ihre Produkte.

Es gibt Tage, im Schnitt meistens dreihundertsechzig im Jahr, da sind Angebote an Abwechslung so groß und verwirrend, so bunt und grell, dass Neuankömmlinge wie ich sich nur noch schockiert ergeben.

Nicht, dass ich Metropolen nicht schon oft erlebt hätte. Doch diesmal fliege ich nicht ein wie sonst, für Meetings oder Kurztrips. Diesmal entscheide ich mich zu bleiben. Bin bereit für was Neues. Bin bereit für eine Stadt, die Bürgersteige hat, so breit wie Hauptstraßen, Schlaglöcher, so tief wie Gletscherspalten und Parks, so groß wie Kleinstädte.

Bin verfügbar für eine Welt, die Chaos liebt, die Chaos braucht. Für eine Welt, die Nischen bietet für alles und jeden. Deren Frauen, wenn sie auch manchmal Frauen lieben, die schönsten sind, die ich je sah. Denn sie kommen von überall her und bleiben hier. Mal für Wochen, mal für Jahre. Nur gut, dass viele erst viel später mitbekommen, wie oft doch schöne Männer schon vergeben sind in dieser Stadt, an andere Männer. Mag sein, dass darum hier so viele Frauen lächeln. Für das Lächeln eines Mannes, denn das erregt ihr Interesse. Und wenn er dann noch mit dem Auge zwinkert, wird er im Nu Bekanntschaft machen. Mit der Glut in dieser Stadt. Die kein Wind, sei er noch so kalt, je zum Erlöschen bringen kann.

Und dann die Nächte. Nur stramme Schenkel und feste Hintern, von all dem vielen Radfahren, sind häufiger hier als Bars und Clubs. Unzählig wie Sandkörner am Strand. Ist die Stadt nicht eine einzige Strandparty, frage ich mich. Doch auch wenn Ebbe herrscht in ihren Kassen, Menschen feiern trotzdem hier. Womit, weiß manchmal keiner, warum, das wissen alle. Wer hier überlebt, darf feiern. Das ist ihr Gesetz. Und es gibt viele, die ihm folgen. Und, dass die Stadt fast überall auf Sand gebaut ist, verstärkt nur meinen Eindruck: Die Stadt, in der ich lebe, seit über einem Jahr, ist nicht normal, ist unvergleichlich, ist einfach Berlin.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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