Was „Tischlein-deck-dich“ lehrt: Ein Vater mit überzogenen Ansprüchen und seine Söhne
Traditionelle Märchen sind wirkmächtige Erzählungen, die uns mit existenziellen Fragen konfrontieren, die archetypisch sind, also für uns als Menschen universale Gültigkeit besitzen. Und sie geben Antworten auf diese Fragen, wenn wir einen tiefen Zugang zu ihnen finden. Die tiefenpsychologische Deutung kann dabei helfen, diese Weisheit bewusst zu machen.
Dieser Artikel analysiert das Märchen „Tischlein deck‘ dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack“ aus tiefenpsychologischer Perspektive und will damit die Weisheiten, die in diesem Märchen stecken, zugänglicher machen. Das Märchen zeigt beispielhaft an drei Brüdern erschwerte Entwicklungswege zum Mann. Im Zentrum stehen dabei die überzogenen Ansprüche des Vaters und die Reaktionen der Brüder auf ihre Erfahrungen mit ihm.
Eine hinterhältige Ziege
Das Märchen beginnt mit der Aufgabe, die ein Schneidermeister seinen drei Söhnen nacheinander aufträgt. Wir finden eine Familie vor, in der es weder eine Mutter noch Mädchen zu geben scheint. Das Märchen betont von Beginn an damit die männliche Seite der Entwicklung. Der Vater ist ein Schneidermeister, also ein Handwerker, der eine eigene Werkstatt führt. Es scheint aber auch ärmlich zuzugehen, denn er besitzt nur eine einzige Ziege, welche immer bestens versorgt sein soll.
Die Aufgabe, welche der Vater seinen Söhnen aufträgt, besteht bei jedem einzelnen darin, die von ihm heiß geliebte Ziege auf die Weide zu führen und sie nur das beste Gras und so weiter fressen zu lassen.
Als Erstes ist der älteste Sohn dran. Die Ziege ist aber ein hinterhältiges Geschöpf. Auf der Weide erklärt sie jedem der Söhne: „Ich bin so satt, ich mag kein Blatt.“ Sobald sie aber wieder zu Hause beim Vater angekommen ist, beschwert sie sich bitterlich und verleumdet den Sohn, indem sie behauptet: „Wie soll ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein und fand kein einzig Blättelein.“ Der Vater wird enorm wütend und jagt den Sohn unter Prügel seiner Elle aus dem Haus. Dies wiederholt sich mit dem zweiten sowie dem jüngsten Sohn.
Dieser Ausgangspunkt wird besonders dann verständlich, wenn wir die Ziege als inneren Anteil des Vaters verstehen. In Mythen werden Göttern oft Tiere beigeordnet, welche ihre Attribute verdeutlichen. Im Märchen als „kleinem Mythos“ gilt das ebenfalls.
Die Ziege steht also für Merkmale, die der Schneidermeister aufweist. Welche das sind, verrät uns das Symbol der Ziege. Diese wird seit alters her mit dem bocksfüßigen Teufel assoziiert, steht damit für etwas Triebhaftes, Impulsives, das der Vater nicht steuern kann. Er ist gewissermaßen vom Teufel geritten, ohne dass es ihm bewusst ist.
Der Vater konnte seinen eigenen Ansprüchen nicht genügen
Die Ziege ist außerdem unersättlich und unaufrichtig. Wir können sie verstehen als nicht zu befriedigende gierige Ansprüche, welche der Vater auf seine Söhne richtet. Väter, die maßlos überzogene Ansprüche an ihre Kinder, in diesem Fall Söhne richten, werden nie zufriedenzustellen sein.
Der Grund dafür liegt darin, dass sie unbewusst mit ihrem eigenen Leben und ihren Ansprüchen unzufrieden sind und es sich eigentlich selbst nicht recht machen können. Wir erfahren das aus der Tatsache, dass der Vater schließlich selbst versucht, seine Ziege, also seine eigenen überzogenen Ansprüche zufriedenzustellen.
Da wird ihm endlich bewusst, dass er seinen Projektionen auf die Söhne erlegen war: Denn er hatte geglaubt, es seien die Söhne, welche ihn unzufrieden machten, während er in Wahrheit eben seinen eigenen Ansprüchen nicht genügen konnte.
Im Märchen gelingt es dem Vater tatsächlich, eine Wandlung durchzumachen: Er schafft es, die Ziege davonzujagen. Das Rasieren bedeutet ähnlich wie beim biblischen Samson-Mythos eine Entmachtung seines inneren Selbstwertkonflikts, welches der Schneider hatte. Er hat sich damit von seiner eigenen unbewussten Prägung befreit. Jetzt erst kann er der verlorenen Beziehung zu seinen Söhnen nachtrauern und sich wünschen, sie wieder bei sich zu haben.
Drei magische Geschenke
Aber wie es sich in therapeutischen Kontexten auch erleben lässt: Die Eltern können sich verändern. Aber was sie den Kindern mitgegeben haben, müssen diese selbst bearbeiten. Konsequent wendet sich das Märchen also der Entwicklung der Söhne zu.
Der älteste Sohn geht bei einem Schreiner in die Lehre. Er macht sich gut, erlebt eine positive Vaterfigur und wird sogar zum Abschluss von diesem beschenkt: Er bekommt ein Tischlein, das sich magisch reichhaltig mit Nahrung decken kann.
Auch den anderen beiden Söhnen ergeht es eigentlich ziemlich gut. Aufgrund ihres Fleißes und ihrer Leistungen werden sie von ihren jeweiligen Handwerksmeistern – einem Müller und einem Drechsler – gefördert und zum Abschluss mit magischen Geschenken versehen. Während der mittlere Sohn einen Esel bekommt, der Goldstücke spucken kann, bekommt der Jüngste etwas Unscheinbareres, nämlich einen Sack, aus dem ein Knüppel springen und seine Feinde verprügeln kann.
Wir können die Entwicklung und Ausbildung der Brüder als „gut kompensiert“ betrachten. Sie haben durch den Vater allesamt tiefe Verletzungen in ihrem Selbstwertgefühl davongetragen.
„Orale Überversorgung“ und übersteigerter Selbstwert
Im Jugendalter ist für die Entwicklung des Jungen (und des Mädchens) die Anerkennung des Vaters besonders wichtig, um sich emotional ablösen und echte Unabhängigkeit entwickeln zu können. Die beiden älteren Söhne haben zwar erfolgreiche Karrieren gemacht und auch positive Vaterfiguren bei ihren Lehrmeistern gefunden. Aber sie haben es nicht schaffen können, ihre Prägungen durch die Kindheit zu überwinden. Sie sind sich diesen völlig unbewusst. Dies lässt sich an den drei Episoden der weiteren Märchenhandlung zeigen.
Das „Tischlein deck‘ dich“ des ältesten Bruders steht symbolisch für den Versuch, die Kränkung durch den Vater mittels dessen zu kompensieren, was wir psychoanalytisch als „orale Überversorgung“ bezeichnen könnten. Damit ist gemeint, dass versucht wird, den Mangel an Liebe, Zuneigung, körperlicher Nähe und Versorgung auszugleichen, indem man sich Bedingungen schafft, in denen man bestenfalls niemals auch nur den geringsten Mangel verspürt.
Darauf wird dann die ganze zur Verfügung stehende Energie gerichtet. Zum Beispiel könnte man Sicherheit um jeden Preis suchen, materiell und auch in Beziehungen. Man könnte aber auch Suchtverhalten entwickeln, eine häufige pathologische Reaktion auf die emotionale Unterversorgung in der Kindheit.
Der mittlere Bruder kompensiert narzisstisch, also mit einem äußerlich übersteigerten Selbstwert. Sein Goldesel kann ihm jederzeit und überall diesen überdimensionierten Wert verschaffen, selbst wenn er dafür nichts leisten muss. Symbolisch bedeutet das, dass dieser junge Mann seine Wunde im Selbstwert zu verdecken versucht, indem er überall grandios glänzen muss. Er ist abhängig von der Bewunderung anderer, welche er sich beispielsweise mit seinem Reichtum erkauft.
Kein echter innerlicher Wert
Beiden älteren Brüdern ist zu eigen, dass sie ihren Wert nicht innerlich sicher haben, sondern ihn zur Schau stellen müssen. Sie kommen gar nicht auf die Idee, dass ihr Umfeld neidisch werden könnte, sie müssen die Bestätigung von außen bekommen.
Dies wird ihnen symbolisch auch zum Verhängnis, denn die Geschenke werden von dem Wirt durch wertlose Gegenstände ersetzt, ohne dass ihnen das bewusst wird. Dadurch zeigt sich, dass die Wertigkeit, welche die Brüder in ihren Kompensationen gesucht haben, weder sicher noch innerlich authentisch ist.
Der Wirt ist als Figur eine Wiederholung des negativen Vaters. Er steht symbolisch für den Wiederholungszwang, dem die älteren Brüder unterliegen: Sie wiederholen, ohne es zu merken oder zu wollen, ihre Erfahrungen mit dem Vater, nämlich die Entwertung. Diese wird ausgedrückt, im Wegnehmen der magischen Objekte und im Ersetzen durch wertlose. Der Wirt zeigt sich dabei als genauso unersättlich wie die Ziege des Schneidermeisters.
Als die beiden älteren Söhne zum Vater zurückkehren, sich mit ihm versöhnen und ihm kindlich anmutend ihre tollen Sachen zeigen wollen, bricht ihre Kompensation endgültig zusammen: Sie wollen den Vater beeindrucken, seine Anerkennung erlangen, und das auch noch vor Zeugen.
Doch als sie die Fähigkeiten ihrer Geschenke demonstrieren wollen, entpuppen sie sich als gewöhnliche Objekte ohne grandiose Fähigkeiten – wieder eine Enttäuschung. Die älteren Brüder haben ihre kindlichen Wunden nicht bearbeitet und kommen nicht aus der Rolle des enttäuschenden Sohnes heraus, weil sie sich innerlich nicht vom Narzissmus des Vaters abgrenzen konnten.
Das ist eine Lehre, welche wir auch aus der Psychotherapie ziehen können: Die Schatten der Vergangenheit holen uns unweigerlich ein, wenn wir sie uns nicht bewusst machen und verarbeiten. Außerdem sind die orale (Tischlein) und die narzisstische Kompensation (Goldesel) nicht dauerhaft tragfähig. Was besser funktioniert, zeigt die Entwicklung des jüngsten Sohnes.
Auseinandersetzung mit dem negativen Vater
Nur der jüngste Bruder entwickelt mit der Hilfe seines Lehrmeisters ein anderes Verarbeitungsmuster. Er bekommt einen Knüppel aus dem Sack. Psychologisch gesprochen würden wir sagen: Er ist der Einzige, der seine Wut auf den Vater, auf den Mangel und so weiter nicht verdrängt, sondern Aggression bewusst zur Verfügung hat.
Er kann im übertragenen Sinne den Knüppel rausholen und sich aggressiv gegenüber dem negativen Vateraspekt, der in Gestalt des Wirtes auftritt, abgrenzen. Sack und Knüppel sind außerdem ein männlich-phallisches Symbol, vereint mit einem weiblich-vaginalen Symbol. Zusammen drückt das eine Ganzheit, eine geheilte Psyche aus, welche von innen heraus sowohl zurückhaltend als auch aggressiv vorgehen kann – je nach Bedarf.
Dem jüngsten Sohn kommt zudem zugute, dass er von den anderen Brüdern über deren Schicksal informiert ist. Sie hatten ihm geschrieben und ihr Leid geklagt. Dieser Vorteil des gesteigerten Bewusstseins hilft dem Jüngsten, sich mit seiner Gabe nicht prahlerisch zu zeigen, sondern zurückhaltend. Aber auch er entgeht der Auseinandersetzung mit dem negativen Vater nicht.
Durch seine Wachsamkeit – er stellt sich nur schlafend – kann er den Wirt als Wirkung des negativen Vateranteils zu fassen bekommen und sich aggressiv von ihm abgrenzen. Im Märchen wird das durch das Verprügeln des Wirtes ausgedrückt.
Der jüngste Bruder ist dabei gezielt und bewusst aggressiv, nicht von narzisstischer Wut besessen. Das vorhandene Maß und die Kontrolle, die er hat, werden durch den Sack ausgedrückt, der als weibliches Symbol die phallische Macht ausbalanciert.
Anerkennung des Mangels, den man vom Vater erfahren hat
Psychologisch betrachtet ist die dritte Lösung dauerhafter: Sie besteht aus Bewusstheit und der Verfügbarkeit von Trennungsaggression, der Fähigkeit, sich zu lösen und abzugrenzen. Im alltäglichen Leben würde diese Entwicklung beispielsweise in einer bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen Wunde im Selbstwert bestehen, in der Anerkennung des Mangels, den man vom Vater erfahren hat, sowie in der kontrolliert aggressiven Abgrenzung von den schädlichen Aspekten dieser Vaterbeziehung. Der jüngste Sohn kann sich so freimachen von den Ansprüchen des Vaters.
Der Sohn kehrt dann mit allen Gaben zum Vater zurück. Erst jetzt gelingt symbolisch die Versöhnung mit dem Vater innerlich und wahrhaftig. Sie ist aber auch eine Versöhnung mit dem verinnerlichten Vaterbild, nicht unbedingt mit dem äußeren konkreten Vater. Letzteres hängt stark davon ab, wie dieser sich selbst entwickelt hat.
Ist die bewusste Ablösung vom Vater in der Trennungsaggression erfolgt, dann kommen auch die anderen Bereiche wieder in Ordnung: die oralen Bedürfnisse und das Selbstwertgefühl. Im Märchen wird das ausgedrückt durch die Wiedererlangung der magischen Objekte und die Bewunderung durch den Schneidermeister.
Zusammenfassend können wir sagen, dass es zur Bewältigung einer entwertenden Vaterbeziehung mit überzogenen Ansprüchen Bewusstheit und eine sich selbst bestärkende Fähigkeit zur aggressiven Abgrenzung nach innen wie außen benötigt, um eine gelungene Ablösung leisten zu können und ein authentisch selbstsicherer junger Mann zu werden.
Ansonsten besteht immer wieder die Gefahr, dass die Gefühle von Wertlosigkeit und Hilflosigkeit mit Macht zurückkehren und ihren Tribut fordern.
Johannes Heim ist Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sowie Co-Gründer des Hermes Instituts für private Bildung.
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