Vom Legastheniker zum Schriftsteller

Titelbild
„Das Leben ist dem Stehen auf diesen Büchern gleich. Man muss Balance halten und gleichzeitig gelassen bleiben.“ Wilfried KrieseFoto: Mauer-Verlag
Von 25. Oktober 2005

In dem Büro des Mauer-Verlags auf der ersten Etage eines mehrstöckigen Hauses in der Nähe des Bahnhofs von Rottenburg am Neckar zeigte der Inhaber des Verlags und Schriftsteller Wilfried Kriese, auf die Bücher in den vier Holzregalen an der Wand und sagte: „Diese Bücher habe ich alle gelesen. Ich habe Tausende von Büchern gelesen.“ Für einen Verleger ist das nichts Besonderes. Für einen, der seine neun-jährige Regelschulzeit und drei-jährige Berufschulzeit in Sonderschulen für Lernbehinderte verbracht hat, ist das ein Wunder.

Kriese ist Legastheniker. Sein Problem mit dem Sprechen, Schreiben und Lesen war aber nicht angeboren. Als er zwei Jahre alt war, ist seine Mutter durch den Tod seines Vaters eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern geworden. Und er, der sich bisher in allen Hinsichten genauso gut wie andere Kinder entwickelt hat, hat wegen des großen Schockes die Sprache verloren. „Erst in der siebten Klasse konnte ich einigermaßen fließend lesen.“ erinnerte er sich.

Die eigenen Schwächen zu Stärken machen

Tierpfleger war sein Traumberuf während seiner Schulzeit, aus seiner großen Vorliebe für die Tiere. Allerdings hat er schließlich die dreijährige Ausbildung für Hochfachwerk gemacht. Von Verleger und Schriftsteller hätte er nie geträumt. „Meine Grammatik war katastrophal, die Rechtschreibung auch.“ Das war seine eigene Beschreibung an ihn selbst vor mehr als 20 Jahren. Als er als Hochfachwerker tätig war, hatte er immer ein Zettelchen in der Tasche, worauf Worte wie Schublade usw. standen. Im Geheim zog er es aus, als er Belege auszufüllen hatte, um sein Problem mit dem Schreiben vor seinen Kollegen zu verbergen.

„Doch an und für sich fühlte ich mich in der Lernbehindertenschule geborgen und wohl, da alle Schüler irgendwelche Lernschwierigkeiten hatten. Außerhalb der Schule sah die Sache des Wohlwollens, als auch der Geborgenheit ganz anders aus.“ schrieb Kriese 1991 in seiner Biographie „Halbzeit – Die eigenen Schwächen zu Stärken machen“. Viele seiner Schulkommilitonen verwendeten Gewalt gegen andere Kinder. Denn sie fühlen sich von fast allen Kreisen ausgeschlossen. Dazu kam noch, dass viele Kinder aus Familien kamen, in denen die Gewalt oft eingesetzt wurde. Das Gefühl, aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, wurde zu Hass gegenüber der Gesellschaft. Manche Kinder sahen ihren einzigen Weg in der Gewalt. Der sanftmütige Kriese kommt aus einer bescheidenen, gewaltlosen Familie. Die Mutter hat ihn zum weiteren Lernen in der Schule zu ermutigt. Sie war bereit, von dem begrenzten Einkommen der Familie auch die Nachhilfestunden für Kriese zu bezahlen. Konfrontiert mit dem Ausschluss aus der Gesellschaft, ist Kriese einen anderen Weg gegangen: sich vom Hass befreien, Kommunikation und Dialoge suchen.

Als er 25 war, kam Kriese plötzlich auf die Idee, sein Leben als einer der Randgruppe der Gesellschaft niederzuschreiben. Er traute sich nicht, anderen von seinem Plan zu erzählen. Er wusste, alle würden versuchen, ihn von dieser Idee abbringen: „Lass das doch, du kannst das eh nicht schaffen.“ Doch zwei Jahre danach ist sein erstes Buch, seine Biographie, erschienen. Natürlich wurde ihm bei der Grammatik und Rechtschreibung geholfen. Damals gab es für ihn noch keinen bezahlbaren Computer, auch nicht die Rechtsschreibungs- und Grammatiksoftware, welche heute häufig benutzt werden. Ein Legastheniker, der seine ganze Schulzeit in Sonderschulen verbringen musste, hat ein Buch geschrieben: das hat Kriese so gefreut, dass er sein Buch mit ins Bett nahm.

Nischenautor Nr. 1

Seit er 20 war, besuchte Kriese verschiedene Deutschkursen, Grammatikkurse, Fernkurse für Autoren, sowie für Journalismus. Inzwischen hat er 25 Bücher geschrieben, über Gesellschafts- und Randgruppenthemen, aber auch Biographien über berühmte Persönlichkeiten, Satire, Romane, Lyrik und Sachbücher. Nischenautor Nr. 1 ist er, so wie er sich selbst bezeichnet. Allmählich wurden die Medien auf ihn und seine beispiellose Laufbahn aufmerksam. Zuerst die regionalen Medien, dann die größeren Medien. Anlass für seinen Besuch im Dez. 1999 in seiner alten Schule, der Flattichschule für Lernbehinderte in Mössingen, waren die Dreharbeiten für ein Fernsehportrait, das der Südwestrundfunk (SWR) über Kriese machte.

Für Kriese ist das Leben voller Überraschungen. „Sehen Sie, als ich vor einem Jahr mein Büro vom Zuhause hierher umgezogen habe, habe ich nie gedacht, dass ich ein Jahr danach mit einer chinesischen Dame und einer Dame mit indischer Abstammung zusammen in einem Zimmer sitze.“ Seine einzige Mitarbeiterin Kneer dreht sich um und lächelt uns zu. Die 24-jährige dunkelhäutige Kneer wurde als kleines Kind von einer deutschen Familie adoptiert und arbeitet seit fünf Jahren neben dem Studium im Mauer-Verlag.

Der eigene Verlag

Die größte Überraschung ist sein Mauer-Verlag. Das Motto des Verlags lautet: „Jeder möchte doch in seinem Leben eine Mauer niederreißen.“ Seitdem Kriese einiges verstand, stand er ständig vor einer Mauer nach der anderen: Unverständnis, Einsamkeit, Wut, Hass, Enttäuschung, Ausgrenzungsgefühl… Nach 42-jährigem Leben sieht er nun die schöne Landschaft hinter diesen Mauern, nicht nur die 25 Bücher von ihm selbst, sondern auch die mehr als 100 Autoren, die dem Mauer-Verlag das Vertrauen schenkten und ihre Bücher hier veröffentlichen ließen. Kriese lädt die Autoren ein, mitzusehen, wie aus einer Diskette ein Buch gemacht wird. Die Freude auf das fertige Buch erlebt der Autor hautnah. Und er, einst von Fachleuten als hoffnungsloser Fall aufgegeben, führt nun ein eigenständiges Leben. Es ist eine große Ermutigung für all diejenigen, die so wie er zu Randgruppen gehören. Die Ermutigung den Mut zu haben, sich selbst so zu akzeptieren, wie man eigentlich ist.

Schreiben aus Spaß am Schreiben

Für Außenstehende ist der Ehrendoktortitel (Doctor Honoris Causa), den Kriese 2003 mit 40 von der kanadischen University of Windsor (Ontario) bekommen hat, ohne Frage die schönste und auffälligste „Landschaft“. Für einen mit einer solchen Laufbahn ist das beispiellos. Allerdings sieht Kriese die Preisgewinnung anders: „Ich schreibe nicht um Preise zu gewinnen, und auch nicht um zu leben. Ich schreibe, weil ich dabei Spaß habe. Ich mag das Wort Arbeiten nicht. Der Verlag ist einfach ein Teil meines Lebens. Wenn ich für einen Preis schreibe, muss ich bestimmten Rahmen entsprechen, und das Schreiben ist dann nicht mehr das, was ich haben will. Natürlich würde ich mich freuen, wenn mir jemand einen Preis gibt nachdem ich was geschrieben habe. Aber Preisgewinnung ist nicht das Ziel, sondern ein Ergebnis des Schreibens.“



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