Kalligrafie: Eine Kunst für jeden (Teil 2)

Im ersten Teil führte der Kalligraf Werner Eikel (1929–1998) aus, welchen Wert die Kunst der Kalligrafie in unserer Kultur besaß. Hier in Teil zwei schlüsselt er auf, welche Veränderungen die Aufspaltung der Schrift in einzelnen Buchstaben hatte und welch Balsam für die Seele es sein kann, in ganzen Wortbildern zu schreiben.
Titelbild
Kalligrafie Werner Eikel: Ausstellung: Shmuel Blumberg & Werner Eikel, Galerie Ernst Fuchs, Wien VI, 4. bis 20. November 1965, Plakat.Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Roland Eikel
Von 1. August 2024

In Japan lernt jedes Kind in der Schule das „Schönschreiben“ – die Kalligrafie. Hier wird schon früh der Blick geschult für ein gutes Schriftbild, obwohl die Japaner uns technologisch in Bezug auf die Automatisierung des Schreibens sicher nicht unterlegen sind.

Wir haben heute ein Überangebot an Schrifttypen unterschiedlichster Charakteristik. Sie können aus den verschiedenartigsten Speichergeräten über Wiedergabegeräte höchster technischer Präzision blitzschnell abgerufen und sichtbar gemacht werden.

Manche dieser Wunderwerke lösen tausend Linien pro Zentimeter mittels Laser- oder Kathodenstrahl auf und kopieren Millionen Buchstaben in einer einzigen Stunde. Und dennoch stehen wir staunend vor dem Erstlingswerk der Druckkunst, der sogenannten Gutenberg-Bibel.

Liegt es etwa daran, dass in diesem Buch die Kenntnisse der Kalligrafie im technischen Bereich in nahezu vollkommener Weise verwirklicht wurden? Oder verdanken wir es gar dem Ärger Gutenbergs über die immer liederlicher arbeitenden Schreibstuben, der ihn zu dieser Konsequenz maschinellen Handschreibens trieb? Wie kommt es, dass ein Erstlingswerk bereits so hohe Maßstäbe setzen konnte, dass man den Teufel im Bunde glaubte?

Der Zusammenhalt geht verloren

Während Gutenberg noch versucht hatte, den Buchstaben vor der Isolierung eines Einzelsymbols zu bewahren (indem er eine Schrift auswählte, deren Buchstaben so beschaffen waren, dass sie sich untereinander berühren konnten und das Schriftbild aussah, als bestehe es aus vielen Wortbildern und nicht aus einer Vielzahl von Einzelbuchstaben), zeigten die späteren Schriftarten bereits deutlich den Zerfall der Wortbilder in Einzelbuchstaben.

Nach Aufgabe der gebrochenen Schrifttypen (Schriftarten, bei denen die Rundbögen teilweise oder komplett unterbrochen sind) war eine Buchstabenbindung im Schriftbild kaum noch möglich. Die Zusammensetzung unveränderbarer Einzelsymbole zu Wort- und Schriftbildern erfordert eine Unmenge an Kompromissen, denn schließlich soll ja jeder Buchstabe in einem guten Proportionsverhältnis zum anderen stehen, und das Alphabet hat nun mal 26 Klein- und ebenso viele Großbuchstaben, von den Hilfszeichen ganz zu schweigen.

Offenere Wortbilder erfordern aber größere Wortzwischenräume, und aufgelockerte Zeilen zwingen zu größeren Zeilenabständen.

Nun kam aber noch eine zweite Entwicklung hinzu, die zum immer blasser werdenden Schriftbild führen musste. Als Gutenberg den Letternguss erfand, diente ihm die Technik des Holzschnitts als Vorbild und die erste Druckpresse mag eine umgebaute Kelterpresse gewesen sein.

Neue Techniken erfordern neue Schriften

Für die ersten Drucke verwendete man noch das gleiche edle Material, das der Handschrift als Schreibgrund diente, Kalbs-, Ziegen- oder Schafspergament, manchmal auch Schweinshaut. Aber nicht nur die Beschaffung dieses wertvollen Untergrundmaterials musste bei dem nun schneller wachsenden Bedarf zum Problem werden, auch sein Preis.

Wenn heute ein Pergamentfell ein Hundertfaches vom Papierpreis ausmacht, so war der Unterschied im 15. Jahrhundert sicher nicht ganz so krass, da die Büttenpapiere noch von Hand geschöpft werden mussten, aber gewaltig war er gewiss damals schon.

Nun dürfen wir uns die ersten Papiere nicht so vorstellen wie unsere jetzigen. Sie waren rau und ungeglättet. Unter der Lupe betrachtet wirkt ihre Oberfläche wie eine Alpenlandschaft, in die die Lettern so tief eingepresst werden müssen, dass eine Ebene entsteht, auf der die Farbe eine Fläche bilden kann wie bei einem Alpsee.

Die anfangs noch recht großen Buchstaben litten kaum unter dem erforderlichen kräftigen Druck. Auch fiel das Problem der Randunschärfe kaum ins Gewicht, die durch Quetschung der Farbe über den Letternrand entstand.

Problematisch wurden diese Begleiterscheinungen erst, als aus Rationalisierungsgründen die Schriftgrößen stark verkleinert werden mussten. Übertrug man die Schriftformen rein proportional, so schmierte nun das kleine „e“ im Innern zu, weil die Farbe nicht nur beim Druck durch Pressung, sondern auch schon beim Einwalzen über die Ränder lief und Unschärfen verursachte.

Kalligrafie von Werner Eikel mit einem Text von Michelangelo Buonaroti (1475–1564): „Genius ist ewige Geduld“, Ars Scribendi, Seite 145. Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Roland Eikel

Schriftbild verblasst immer mehr

Durch diese Erfahrung belehrt, ging man dazu über, die Matrizen für den Guss der kleineren Schrifttypen offener zu schneiden, sodass magere Schriften entstanden. Diese Methode wurde bis in unsere Tage beibehalten, obwohl die Papiermacher ständig an der Glättung und Veredelung der Papieroberfläche arbeiteten und heute Papiere anbieten können, die so glatt und plan wie eine Glasscheibe sind.

Außerdem wurden neue Druckverfahren entwickelt, bei denen man kaum noch von „Druck“ sprechen kann, so sanft wird die Druckfarbe auf das Papier abgezogen (Offset!). In diesem Druckverfahren wird bekanntlich die Farbe nicht direkt vom metallenen Druckträger zu Papier gebracht, sondern auf dem Umweg über ein Gummituch.

Zu einer weiteren Verblassung des Schriftbildes kam es mit der Erfindung des maschinellen Schriftsetzverfahrens. Die neuen Setzmaschinen schafften den Zeilenausgleich, indem sie mit konischen Ringen die gesetzten Worte einfach auseinanderdrücken, gleichgültig, ob das Satzbild ästhetische Ansprüche erfüllte oder nicht.

Der Handsetzer, dem es noch ein Bedürfnis war, ein einigermaßen ausgeglichenes Schriftbild abzuliefern, und der durch den Setzermeister stets dazu ermahnt wurde, konnte die Zeile noch mit vielen Tricks ausgleichen, ohne dass man diese erkannte, zum Beispiel, indem er mit hauchdünnen Papierspatien ein geradezu perfektes Gleichmaß erzielte.

Ohne kalligrafische Schulung kein gelungenes Schriftbild

Während bei einer breitlaufenden Zeile die maschinenbedingten Lücken noch nicht einmal so auffielen, da sie sich durch die Menge der Worte gleichmäßig auf die Zeile verteilen konnten, wirkte sich dies bei der Schmalspalte recht katastrophal aus.

Hier entstehen Schriftbilder wie Mauerwerk, indem die Fugen größer sind als die Steine. Wir bekommen sie heute noch in vielen Tageszeitungen vorgesetzt.

Wir sind jetzt in der Lage, einem Computer die kompliziertesten Kombinationen von Schriftzeichen einzugeben und Schriftbilder abzurufen, die ästhetischer und ausgeglichener sein können als die – den Handschriften ähnlichen – Frühdrucke.

Voraussetzung ist aber, dass die Programmierer der Computer kalligrafisch geschult sind und nicht das Alphabet bereits als Schrift ansehen.

Johannes Gutenberg muss ein hervorragender Kalligraf gewesen sein, anderenfalls hätte er wohl kaum sein großes Werk so konsequent vollenden und durchsetzen können.

Und dennoch müssen wir uns fragen, ob er überhaupt die bewegliche Letter erfunden hätte, wenn ihm unsere Reproduktionstechniken zur Verfügung gestanden hätten, die in der Lage sind, eine komplette Schriftseite in einem einzigen Arbeitsgang zu reproduzieren und auf einen Druckträger zu übertragen!

Stimulanz für Auge und Hand

Die Kalligrafie ist nicht nur eine große Kunst der menschlichen Vergangenheit, sie ist vielmehr eine notwendige Voraussetzung für seine Zukunft, denn nur die durch kreativ schöpferische Menschen beherrschte Maschine schafft menschenwürdige und erhaltenswerte Zeugnisse der Zeit.

Die Kalligrafie ist eine der wunderbarsten Beschäftigungen. Sie verhilft dem, der sich ernsthaft mit ihren vielfältigen Möglichkeiten auseinandersetzt, zu immer neuen erfreulichen Überraschungen und Erlebnissen. Das Lob derjenigen, die diese Kunst in großer Zahl bewundern, lässt ihn immer wieder vergessen, dass kunstvolles Schreiben eine Anstrengung sein könnte.

Wer von sich behauptet, er sei zu nervös für diese Tätigkeit, der hat noch nie versucht, die Kunst des Schreibens zu erproben, denn Kalligrafie beruhigt und entspannt, was einhellig von Kursteilnehmern und Studenten bestätigt wird, die zuvor noch der landläufigen Meinung zugestimmt hatten, es würde sie kribblig machen.

Der therapeutische Wert der Kalligrafie, von den Ostasiaten seit Langem erkannt und genutzt, sollte nicht unterschätzt werden. Versuche mit psychisch Kranken haben bisher nur bestätigen können, dass die Kalligrafie Heilprozesse begünstigt, Hoffnungen weckt und Lebensmut zurückbringt.

So kann die Kalligrafie hoffnungsvoll in die Zukunft sehen. Ihre Aufgabenbereiche wachsen täglich, sei es in der Buchkunst, in der Werbung, in der Glaskunst, selbst im Kunstschmiedehandwerk zeigt sich ihre Vielfalt vor allem, wenn sie sich völlig loslöst von den Symbolen der Sprache, den Buchstaben, wenn sie zum Ornament wird und – aus dem Formenreichtum der Schrift schöpfend – zu einem Feuerwerk der Fantasie wird. Schauen wir uns als Beispiel daraufhin einmal die islamischen Vorbilder an!

Jedes handgeschriebene Wort ist ein kleines Abbild der menschlichen Seele, ein Körnchen Kultur. Wir alle sind Träger unserer Kultur. Wirken wir mit, dass die Welt wieder menschlicher werde. Die Kalligrafie als eine schöne und humane Kunst vermittelt uns dieses Bewusstsein ganz unmittelbar – als eine Stimulanz für Auge und Hand.

Kalligrafie von Werner Eikel mit einem Text von Max Planck (1858–1947): „Über Wissenschaft und Forschung“, Auftrag der Max-Plack Gesellschaft, München. Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Roland Eikel



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